Manche nennen es Ehrlichkeit.
Ich nenne es Unachtsamkeit –
wenn Menschen glauben, ihre Gedanken ohne Rücksicht äußern zu dürfen,
und dabei vergessen, dass Worte berühren.
Oder verletzen.
Oder verbinden könnten.
Dieser Text ist eine kleine Erinnerung daran,
dass Wahrheit ohne Mitgefühl keine Tugend
ist.
Und dass man nicht alles sagen muss, nur weil man es denkt.
Es gibt in meinem Leben kaum Menschen, die ich nicht mag.
Natürlich ist einem nicht jeder gleich sympathisch – und das muss auch nicht
sein.
Aber ich begegne allen Menschen mit Freundlichkeit und einer grundsätzlichen
Offenheit.
Ich muss nicht mit jedem befreundet sein.
Ich muss nicht jeden mögen.
Doch ich glaube:
Mögen ist erfreulicher als nicht mögen.
Und deshalb vergeude ich keine Energie mit innerem Widerstand.
Manche Menschen sehen das anders.
Sie fühlen sich sicherer, wenn sie sich innerlich abgrenzen –
manche sogar, wenn sie offen ablehnen.
Besonders häufig begegnet mir das bei jenen,
die sich selbst für besonders „ehrlich“ halten.
„Soll ich
dir mal die Wahrheit sagen?“
– dieser Satz kommt oft nicht als Einladung,
sondern als Vorwarnung.
Was dann folgt, ist selten ein echtes Gespräch.
Oft ist es eine Unhöflichkeit, eine lieblos formulierte Meinung,
manchmal eine völlig unfundierte Behauptung.
Ein Urteil, getarnt als Wahrheit.
„Ich mag dich nicht, weil…“
„Du bist so…“
(Darauf folgt meist nichts Freundliches.)
Was oft als Ehrlichkeit gefeiert wird,
ist in Wahrheit nicht mehr als eine ungebremste Reaktion –
ein Mangel an Empathie,
verkleidet als Mut zur Wahrheit.
Aber Wahrheit
ohne Herz ist kein Mut.
Sie ist Härte.
Und manchmal sogar ein feiger Rückzug aus der Verantwortung, menschlich zu
sein.
Es ist leicht, etwas „Klares“ zu sagen.
Aber es ist schwer, etwas Wahres zu sagen,
das zugleich mitfühlend ist.
Denn wahre Ehrlichkeit öffnet Räume –
sie verletzt nicht, sie erklärt.
Sie macht nicht klein, sie macht sichtbar.
Dem anderen mit vermeintlicher Wahrheitsliebe
die Würde zu nehmen,
ist nichts weiter als schlechtes Benehmen.
Die Begründung „Ich sage eben, was ich denke“
macht es nicht besser –
denn Gedanken sind keine Wahrheit.
Es sind Meinungen.
Reaktionen.
Nicht mehr.
Echte Ehrlichkeit trägt Mitgefühl in der
Stimme.
Alles andere ist nur ein Schrei aus der eigenen Verletzung.
Wir müssen nicht mit jedem vertraut sein.
Aber das ist keine Einladung zu urteilen.
Es ist einfach ein stiller Hinweis:
Hier braucht es weniger Verbindung.
Keinen Angriff.
Keinen Affront.
Nur einen sanften Schritt zur Seite.
Doch Freundlichkeit, auch ohne Nähe,
ist eine Fähigkeit,
in Frieden zu bleiben –
mit sich selbst und mit der Welt.
Ich erinnere mich an eine Begegnung in einem
Seminar.
Eine Frau, mit der ich nur oberflächlich bekannt war,
kam auf mich zu und sagte:
„Soll ich dir sagen, wie du bist? Du
bist…“
Doch weiter kam sie nicht.
Ich war – ausnahmsweise – geistesgegenwärtig und unterbrach sie:
„Nein danke, du brauchst mir nicht zu sagen,
wie ich bin.
Du weißt es nämlich nicht.
Du kannst mir nur deine Meinung über mich sagen.
Und die interessiert mich nicht.“
Sie schwieg.
Und ich ging weiter.
Die Welt wäre ein friedlicherer Ort,
wenn manche Menschen verstünden,
dass Schweigen manchmal nicht Feigheit ist –
sondern Mitgefühl.
Vielleicht braucht diese Welt nicht mehr
Ehrlichkeit –
sondern mehr Mitgefühl in der Wahrheit.
Und nicht als Ehrlichkeit getarnte Lieblosigkeit.
Dem ist nichts hinzuzusetzen
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