Sonntag, 26. Oktober 2025

Liebe ist, wenn man sich freut

 Die Brunnhubers

Ella Brunnhuber schnaufte die Treppe zur Küche hinauf, den Eimer voller Kohlen fest in beiden Händen. „Alles muss man allein machen“, murrte sie halblaut vor sich hin. Als sie an ihrem Mann vorbeikam, der gerade vom Zeitungholen zurückgekehrt war und sich nun im Vorraum die Schuhe auszog, wiederholte sie den Satz – diesmal eine Spur lauter.

Herr Brunnhuber stellte sich taub. Nicht einmal ein Zucken der Wimpern verriet, dass er seine Frau gehört hatte. Schweigend stellte er die Schuhe ordentlich an ihren Platz, hängte die Jacke auf und legte den Hut auf die Ablage. Ohne Hut ging Herr Brunnhuber nie aus dem Haus – nicht einmal zum Zeitungholen.

„Ein Hut bedeutet, man ist behütet“, pflegte er zu sagen.

Ella hielt das für ausgemachten Quatsch – und sagte ihm das auch regelmäßig. Doch Herr Brunnhuber ließ sich nicht beirren. Er wollte behütet sein. Und davon konnte ihn nichts und niemand abbringen. Nicht einmal seine schimpfende Ehefrau.

Er war es gewohnt, dass Ella schimpfte und grummelte. Nach über fünfzig Jahren Ehe nahm er es gelassen. Und wenn es ihm doch einmal zu viel wurde, dann dachte er an Torosa. Torosa – die ihm geholfen hatte, die Dinge neu zu sehen.

Seine Frau wusste nichts von ihr. Hätte er ihr davon erzählt, sie hätte ihn für verrückt erklärt.
Torosa lebte irgendwo in der Nähe, so viel stand fest – doch wo genau, wusste er nicht. Sie erschien und verschwand, wie es ihr beliebte, ohne dass er je herausfand, woher sie kam oder wohin sie ging.

Torosa war eine Katze.
Aber keine gewöhnliche.
Sie leuchtete blau.
Und sie konnte sprechen.

Er konnte das niemandem erzählen. Niemand hätte ihm geglaubt. Und niemand – außer ihm – hatte Torosa je gesehen.

Er erinnerte sich genau an den Tag,
an dem er Torosa zum ersten Mal gesehen hatte.
Es war im Juni, vor einigen Jahren.

Er hatte im Garten gesessen und nachgedacht.
Ella war nicht zu Hause gewesen. Er hatte sich Sorgen gemacht – um seine Gesundheit, denn der hartnäckige Husten, der ihn seit Monaten plagte, wollte nicht besser werden.
Sorgen um seine Ehe, denn wirklich glücklich fühlte er sich nicht.
Ella schimpfte und grummelte von früh bis spät,
freundliche Worte hörte er kaum noch.

Und dann waren da noch die Sorgen um seine Tochter.
Vor einem halben Jahr war sie ins Ausland gezogen, um zu heiraten.

Herr Brunnhuber hielt nicht viel von Ausländern. Nicht, dass er grundsätzlich etwas gegen sie hatte – aber zum Heiraten, fand er, waren sie nicht geeignet.

Er konnte es nicht ändern.
Der Schwiegersohn war nun einmal Ausländer.
Aus Dänemark oder so.
Irgendwo da oben im Norden, wo es viel Wind gab und wenig Anstand, wie er meinte.

Und warum musste er ausgerechnet hierher kommen, in ihr kleines Dorf, um seine Tochter zu heiraten?
Seine Tochter!
Seine wunderschöne, kluge Tochter!

Was hätte aus der alles werden können…
Aber nein.
Da ging sie hin und heiratete einen Dänen.
Ausgerechnet einen Dänen.

Und während er so in seinem Garten saß und sinnierte, bemerkte er plötzlich ein schwaches, blaues Leuchten unter der Hecke.
Er rieb sich die Augen.
Doch das Leuchten blieb.

Inmitten des Schimmers zeichnete sich langsam ein Gesicht ab – ein Katzengesicht.
Und dann, ganz ruhig und würdevoll,
trat sie hervor: eine Katze.
Blau leuchtend.
Elegant wie ein Traum.

„Wer bist du denn?“, fragte Herr Brunnhuber verblüfft.
Diese Katze hatte er noch nie gesehen.
Er hatte überhaupt noch nie eine blau leuchtende Katze gesehen.

„Wohnst du etwa unter meiner Hecke?“, fragte er weiter.
Die Katze schwieg.
Was ihm durchaus vernünftig erschien.

Sie sah ihn an.
Er sah sie an.

Und weil ihm nichts anderes einfiel, fragte er:
„Hast du Hunger?“

Es kam ihm so vor, als würde die Katze nicken.

Also ging er ins Haus, öffnete den Kühlschrank
und fand – nichts, außer einem Becher Sahne.

Er goss die Sahne in ein Schälchen
und brachte es nach draußen.

Die Katze lag inzwischen auf der Gartenbank.
Er stellte das Schälchen vor sie hin.

Da hörte er ganz deutlich eine Stimme.
Klar, ruhig, fast ein wenig vorwurfsvoll:

„Hast du keine Erdbeeren?“

Natürlich hatte Herr Brunnhuber Erdbeeren.
Sie wuchsen in seinem Garten – rote, saftige, stolze Exemplare.
Aber…
eine Katze, die nach Erdbeeren fragt?
Das konnte nicht sein.
Er hatte sich das sicher nur eingebildet.

Also blieb er sitzen und sagte lieber nichts.

„Erdbeeren?“, fragte die Katze erneut.

Er schwieg.
Das erschien ihm in dieser merkwürdigen Situation als das Sicherste.

Die Sonne brannte ihm auf den Nacken.
Er dachte an Sonnenstiche.
Vielleicht war das der Grund für all das.
Oder er träumte.
Anders konnte er sich das alles jedenfalls nicht erklären.

Er schwieg.
Die Katze schwieg.
Die Welt schwieg.

Bis –

„Erdbeeren?“, sagte die Katze zum dritten Mal.
Etwas nachdrücklicher.
Als wäre das die selbstverständlichste Frage der Welt.

Jetzt war es Herrn Brunnhuber klar:
Er träumte.
Ganz eindeutig.
Und im Traum, fand er, konnte man ruhig auch einer Katze Erdbeeren holen –
ohne sich dabei dumm vorzukommen.

Also stand er auf, ging zum Erdbeerbeet,
pflückte eine Handvoll Beeren, goss Sahne darüber und stellte das Schälchen vor die Katze auf die Bank.

Sie setzte sich aufrecht hin
und begann, ganz manierlich die Erdbeeren zu fressen.
Dann leckte sie genüsslich das letzte Tröpfchen Sahne aus der Schüssel.

„Wer bist du nur?“, fragte Herr Brunnhuber leise.

Die Katze hob den Kopf, sah ihn einen Moment an und sagte dann:

„Ich bin Torosa.“

 Da knarrte das Gartentor – und Ella kam nach Hause.

Sie steuerte geradewegs auf ihn zu, den Mund schon voller Beschwerden:
über die unhöflichen Angestellten im Supermarkt,
über die alte Frau, die sich an der Kasse vorgedrängt hatte, und natürlich über das Gartentor,
das immer noch knarrte, weil er sich – wie so oft –
nicht darum gekümmert hatte.

In diesem Moment wusste Herr Brunnhuber:
Er träumte nicht.
Er war hellwach.

Er erwartete, dass Ella gleich nach der Katze fragen würde.
Doch sie tat – nichts.
Kein Blick zur Bank, kein erstauntes Zucken,
kein „Was ist denn das für ein Viech?“

Sie ignorierte die Katze vollständig.
Als wäre sie gar nicht da.

Verwirrt blickte Herr Brunnhuber zu Torosa,
die sich seelenruhig auf der Bank putzte.
Dann zu Ella.
Dann wieder zu Torosa.

„Sag mal…“, begann er zögerlich, „siehst du irgendetwas… Ungewöhnliches?“

Ella blieb stehen, runzelte die Stirn.
„Ja, durchaus. Du hast einen frischen Pullover angezogen. Das tust du sonst nicht freiwillig!“

Herr Brunnhuber seufzte.
Er wollte gerade etwas erwidern, da flüsterte Torosa, ohne aufzublicken:

„Sag jetzt nichts. Lächle nur freundlich.“

Er tat, wie geheißen.
Er lächelte.
Ella warf ihm einen misstrauischen Blick zu –
dann schüttelte sie den Kopf und ging ins Haus.

„Siehst du?“
Torosa streckte sich auf der Bank. „So hast du dir einen Streit erspart.“

„Ja“, seufzte Herr Brunnhuber erneut, „manchmal ist es halt anstrengend mit der Ella.“

„Nein“, sagte Torosa leise, „es ist nicht grundsätzlich anstrengend mit ihr. Sie entscheidet ja nicht, ob du dich anstrengst. Du tust das.
Und wenn du dich anstrengst – ja, dann ist es eben anstrengend.“

Herr Brunnhuber runzelte die Stirn.
Dass er mit einer blau leuchtenden Katze sprach,
die offenbar Gedanken lesen konnte, verwunderte ihn mittlerweile nicht mehr sonderlich.

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfach:
Wenn du entscheidest, deine Frau sei anstrengend, welche Möglichkeit hat sie dann noch, etwas anderes zu sein als anstrengend?
Du gibst ihr die Rolle vor – und was immer sie tut oder lässt, du wirst es in dieses Bild einfügen.“

„Aber so ist das gar nicht!“, widersprach Herr Brunnhuber empört. „Ich nehme sie als anstrengend wahr, weil sie es ist!“

Torosa sagte nichts.
Und Herr Brunnhuber schwieg ebenfalls. Er war sich sicher, dass er recht hatte. Er brauchte ihre Zustimmung nicht.

Doch je länger Torosa schwieg, desto unruhiger wurde er.
Warum nur war ihm ihre Meinung plötzlich so wichtig?
Sie war doch nur eine Katze!
Eine sprechende, leuchtende Katze, aber immerhin…

„Weil diese Katze offenbar klüger ist als du“,
kam es ruhig in seine Gedanken.
„Diese Katze kennt das Leben. Sie ist älter als du.
Und viel erfahrener.“

„Dann sag mir doch, was ich falsch mache“,
murmelte Herr Brunnhuber, nun schon fast ein wenig kleinlaut.

„Du machst nichts falsch“, sagte Torosa sanft.
„Du liebst nur nicht.“

„Was soll das heißen? Ich liebe nicht? Ich bin seit Ewigkeiten mit Ella verheiratet!
Natürlich liebe ich sie.“

„Liebe heißt nicht, dass man ewig zusammenwohnt.
Liebe heißt: An jemandem Freude zu haben.
Und zwar immer.“

Herr Brunnhuber starrte auf seine Schuhe.
Er dachte nach.
Lange.
Torosa wartete geduldig.

„Aber wenn sie keinen Anlass zur Freude gibt?“ fragte er schließlich leise.

Torosa schüttelte den Kopf.
„Du willst es dir einfach machen“, sagte sie. „Du willst, dass sie dafür sorgt, dass du dich freust.
Aber Freude ist deine Verantwortung. Du brauchst niemanden dazu.“

„Ja, aber man braucht doch etwas, worüber man sich freuen kann.“, sagte Herr Brunnhuber hilflos. „Ich kann mich doch nicht einfach wie ein Dummkopf vor mich hin freuen!“

Torosa legte den Kopf schräg, ihre Augen funkelten sanft.

„Und wer hat dir erzählt, dass man ein Dummkopf sein muss, um sich zu freuen?“

Herr Brunnhuber dachte eine Weile nach.
Dann hob er den Blick und sagte leise: „Es gibt Kriege auf der Welt. Menschen werden sinnlos ermordet. Kinder verhungern. Tiere werden gequält. Wie – wie soll man da Freude empfinden?“

Torosa schüttelte den Kopf.
„In deiner unmittelbaren Wirklichkeit geschieht das alles gerade nicht. Es ist in deinen Gedanken.
Und es sind nicht die Kriege, nicht die hungernden Kinder und nicht die gequälten Tiere,
die dich belasten – sondern deine Gedanken darüber.“

Sie machte eine kurze Pause, dann sah sie ihn ruhig an.

„Glaubst du wirklich, auch nur ein einziger Krieg endet, ein einziges Kind wird satt, nur weil du keine Freude empfindest?“

Herr Brunnhuber schwieg.

„Du musst nicht die Welt retten“,
fuhr Torosa sanft fort. „Alles, was geschieht,
geschieht aus einem Grund, auch wenn du ihn nicht erkennst.

Aber du… du führst Krieg. In dir.

Den täglichen Kleinkrieg mit Ella.
 Den ständigen Krieg gegen dich selbst.“

Herr Brunnhuber schwieg.
Er schwieg sehr lange.
Tief.
Nachhaltig.

Irgendwie hatte diese Katze recht.
Mit allem.

Sein ewiges Herummeckern. Seine Unzufriedenheit.
Sein Kleinkrieg mit Ella.
Sein Krieg mit sich selbst.

„Beende den Krieg in deinem Herzen“,
hörte er Torosa flüstern.
„Und ruf mich, wenn du mich brauchst.“

Dann war sie weg.
Ein leises Rascheln im Gras.
Kein blaues Leuchten mehr.
Nichts.

Herr Brunnhuber schüttelte sich wie ein nasser Hund. Hatte er das alles wirklich erlebt?
War er vielleicht doch kurz eingenickt?

Aber nein.
Er war wach.
Hellwach.

Er blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen
und dachte nach.

Ja…
Ella zankte nicht allein. Er machte mit. Immer.

Er war ungeduldig. Er konnte nicht verstehen,
dass ihr so vieles nicht passte. Und anstatt zuzuhören, verließ er das Zimmer.
Schaltete den Fernseher ein. Oder ging in den Garten.

Vielleicht hatte sie sich genauso verlassen gefühlt wie er.

Er wollte das ändern. Er wusste nicht genau, wie. Aber er wusste: So ging es nicht weiter.

Er hatte seine Ella doch gern. Auch wenn sie manchmal zänkisch war.
Oder gerade deshalb?

Und dann stellte er sich zum ersten Mal eine Frage:
Wusste er überhaupt etwas über sie?
Über das, was in ihr vorging?
War sie glücklich?
War Freude in ihrem Herzen?

All die Jahre hatte er erwartet, dass sie sich so verhielt, dass sie ihm ein Grund zur Freude war.

Aber war er je ein Grund zur Freude für sie?

Er ging ins Haus und suchte nach Ella.
Er fand sie – wo sie fast immer war:
in der Küche.

Sie briet Spiegeleier.
Einfach.
Für das Abendessen.

Er blieb in der Tür stehen und sah sie an.
Sie wirkte nicht besonders glücklich.
Eher traurig.
Und… irgendwie verletzlich.

So hatte er sie noch nie gesehen.
Oder war es nur so, dass er sie noch nie so angesehen hatte?

Er räusperte sich.
Leise.

„Ella…?“

Sie drehte sich um.
Misstrauisch.
Abwartend.

„Hab ich dir eigentlich jemals danke gesagt?
Dafür, dass du dich um mich kümmerst? Und um den Haushalt?“

Ella starrte ihn an.
Der Kochlöffel in ihrer Hand blieb kurz in der Luft stehen.
Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Nein. Hast du nicht“, murmelte sie,
und wandte sich wieder der Pfanne zu.
„Ist aber auch nicht nötig. Ist ja wohl meine Pflicht.“

Damit war das Gespräch für sie offenbar beendet.
Sie deckte den Tisch
und verteilte die Spiegeleier auf zwei Teller.

Sie setzten sich.
Begannen zu essen.

„Schmeckt gut“, sagte Herr Brunnhuber fast ein wenig schüchtern. „Danke dafür.“

Ella antwortete nicht.
Aber in ihrem Gesicht regte sich etwas.

Ein Lächeln.
Zart.
Unverhofft.
Echt.

Und ihre Augen – sie begannen zu leuchten.

„Ich helfe dir nachher beim Aufräumen“, sagte Herr Brunnhuber. „Und vielleicht…
machen wir noch einen kleinen Spaziergang?“

Er lächelte sie liebevoll an.
Und siehe da –
sie lächelte zurück.
Ebenfalls liebevoll.
Ein wenig zögerlich.
Aber mit ganzer Seele.

Und das…
war erst der Anfang.


Aus dem Buch Torosa kommt auf leisen Pfoten



 

2 Kommentare: