Dienstag, 19. Dezember 2023

Torosa

Wie ein Schatten war die Katze zwischen den Häusern aufgetaucht - geräuschlos und nahezu unsichtbar. Nur schwach hob sie sich vom  aufsteigenden Nebel ab. Lotte erkannte auf den ersten Blick, dass das keine gewöhnliche graue Katze war. Sie schimmerte auf eine seltsame Art und schien nicht richtig grau, sondern eher blaugrau zu sein, und obwohl sie in der Dämmerung kaum wahrzunehmen war, glaubte Lotte, ein Leuchten von ihr ausgehen zu sehen. Lotte starrte die Katze an und die Katze starrte zurück. Und je länger Lotte starrte, desto blauer schimmerte es aus der Dunkelheit. Lotte starrte so lange, bis sie nur mehr die blaugeränderten Ohren der Katze wahrnahm. Und die Augen. Die Augen  strahlten goldgelb und passten nicht so recht dazu. Dies war keine gewöhnliche Katze, darüber war  Lotte sich im Klaren. Jedoch war sie eine sehr nüchtern denkende Frau und für dergleichen Schnickschnack hatte sie nichts übrig. Eine Katze mit blau leuchtenden Ohrrändern hatte in ihrer Wirklichkeit nichts verloren. So etwas war unmöglich, das gab es einfach nicht, und daher drehte sie sich kopfschüttelnd um und eilte weiter.

Eigentlich hatte sie gar  keine Lust gehabt, noch wegzugehen. Aber ihr Kühlschrank war leer, denn sie war erst vor einer Stunde nach längerer Abwesenheit nach Hause gekommen. Sie hatte ihrer Schwester einen siebentägigen Besuch abgestattet, und danach war sie zu ihrer Kusine gereist, bei der sie fünf Tage geblieben war. Die beiden waren ihre einzigen Verwandten und sie besuchte sie jedes Jahr vor Weihnachten und blieb bei jeder so lange, bis sie heillos zerstritten waren. Das pflegte im Allgemeinen etwa zwei Wochen in Anspruch zu nehmen, somit lag sie gut im Zeitplan. Nun war sie müde  und wollte gleich zu Bett gehen. Hunger hatte sie nicht, dennoch entschied sie sich – sie hätte später nicht zu sagen gewusst, warum – noch zum Laden an der Ecke zu gehen, um einige Lebensmittel einzukaufen.

So kam es, dass Lotte der Katze begegnete.

Das Haus, in dem sie wohnte, war vier Stockwerke hoch, und Lotte wohnte ganz oben unter dem Dach. Etwas unlustig schlich sie die enge Treppe nach unten und öffnete die Haustür. Es war bereits dämmrig und die Kälte schnitt ihr in die Wangen. Sie zog den Mantelkragen hoch und beschleunigte ihre Schritte.

Und da war sie plötzlich. Lotte war gar nicht sicher, ob sie nun zwischen den Häusern aufgetaucht oder vom Himmel gefallen war. Sie war plötzlich einfach da.

Lotte hätte hinterher nicht zu sagen gewusst, wie sie sich in diesem Augenblick gefühlt hatte und ob sie Angst gehabt hatte. Sie wusste nur, dass sie mit dergleichen Erscheinungen nichts zu tun haben wollte und dass es eine Katze dieser Art sowieso nicht geben konnte. Erst als sie am Supermarkt angekommen war, merkte sie, dass sie die letzten Schritte gelaufen war. Atemlos blieb sie stehen und sah zurück. Hinter ihr stand die Katze und leuchtete sie mit ihren goldgelben Augen an. Es schien ihr eine Ewigkeit, die sie und die Katze einander in die Augen starrten. Ein Schauder lief Lotte über den Rücken. Doch dann schüttelte den Kopf wie ein Hund, der sich den Regen aus dem Fell schüttelt und betrat hastig den Laden.

Sie ließ sich Zeit mit ihren Einkäufen und trödelte zwischen den Regalen herum. Schließlich kaufte sie etwas Käse und eine Packung Toastbrot. Nach kurzem Überlegen packte sie noch Erdbeeren und einen Becher Schlagsahne in ihren Einkaufskorb. Sie hätte nicht zu sagen gewusst, warum, denn Erdbeeren im Dezember empfand sie als puren Luxus, und Erdbeeren mit Schlagsahne grenzten in ihren Augen sowieso an Völlerei.

Mehrmals schlich sie am Eingang vorbei und schielte nach draußen. Von der Katze war nichts zu sehen.  Lotte schüttelte über sich selbst den Kopf. Warum dachte sie immer noch an diese Katze? Sie ging zur Kasse, bezahlte ihre Waren und verließ den Laden. Inzwischen war es dunkel geworden und es hatte zu schneien begonnen. Lotte verkroch sich in ihrem Mantelkragen und machte sich eilig auf den Heimweg. Nichts Auffälliges war zu bemerken. Nur manchmal glaubte sie, in der Ferne, einen bläulichen Schimmer zu sehen. Aber vermutlich spielten ihr ihre etwas überreizten Nerven einen Streich.

Sie war froh, als sie ihr Haus erreichte.

Vor dem Haus saß die Katze.

Lotte blieb stehen. Ihr Atem ging heftig. Es ließ sich nicht leugnen – diese Katze war ihr unheimlich. Das konnte doch nicht sein. Sie fürchtete sich vor einer Katze! Sie atmete tief durch und ging auf die Katze zu. Die Katze saß bewegungslos und sah ihr ruhig entgegen. Lottes Hände zitterten, als sie die Haustür aufsperrte. Schnell huschte sie ins Treppenhaus. Die Katze erhob sich und folgte ihr. Es kostete Lotte einige Überwindung, aber dann sprach sie das Tier an: „Na, wo wohnst du denn? Willst du nicht nach Hause gehen?“ Die Katze sah Lotte unverwandt an. „Hast du vielleicht Hunger?“ fragte Lotte weiter, „dann solltest du erst recht nach Hause gehen. Denn wir kennen einander weiter nicht, und du wirst doch wohl nicht annehmen, dass ich fremde Katzen durchfüttere. Und du selbst wirst ja wohl auch nicht von jedem Fremden etwas annehmen wollen.“

Damit drehte sie sich um und kletterte ohne sich umzusehen keuchend die Treppe bis zum vierten Stock empor. Die Katze folgte ihr ruhig und geschmeidig.  Lotte fühlte sie mehr als dass sie sie sah. Oben angekommen wandte sie sich nochmal rasch um und fuhr die Katze an: „Nun schau doch endlich, dass du fortkommst!“  Dann schloss sie mit zittrigen Fingern ihre Wohnungstür auf und betrat, gefolgt von der Katze, ihre Wohnung.

Sie stellte ihre Einkäufe in die Küche und ließ sich dann mit einem Seufzen auf einen Sessel plumpsen. Sie  brauchte ein Weilchen, bis sie wieder zu Atem kam. Als ihr Mann noch gelebt hatte, hatten sie oft davon gesprochen, eine andere Wohnung zu suchen, eine, die ebenerdig gelegen war. Aber seit er tot war, dachte Lotte nicht mehr daran, hier wegzuziehen. Sie war über siebzig Jahre alt und sie war nicht daran gewöhnt, selbstständige Entscheidungen zu treffen. Solange Gustav lebte, hatte er die Entscheidungen getroffen. Und das war ihr so recht gewesen.

Die Wohnung hier war ja soweit in Ordnung. Außer dass sie eben im vierten Stock lag und Lotte ihre gesamte Sportlichkeit abverlangte. Und dass in der Nebenwohnung eine junge Familie mit drei kleinen Kindern wohnte, wertete die Wohnung auch nicht gerade auf.  Lotte mochte keine Kinder. Sie hielt Kinder grundsätzlich für laut, frech und unerzogen. Obwohl sie zugeben musste, dass die Nachbarskinder immer freundlich grüßten. Die junge Frau hatte schon mehrmals versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen, ein Gespräch zu beginnen. Aber Lotte hatte sich auf keine Unterhaltung eingelassen, hatte nur kurz und mürrisch geantwortet. Irgendwann hatte die Frau aufgegeben, lächelte sie immer nur schüchtern an, wenn sie einander begegneten.

Lotte war nicht immer so gewesen. Früher als sie jung war, hatte sie Freunde gehabt, und Freude am Leben. Kinder hätte sie sich schon auch gewünscht. Aber sie hatte keine bekommen, und sie hatte deswegen lange mit ihrem Schicksal gehadert, war verbittert geworden und hatte sich zurückgezogen. Heute war sie froh darüber. Obwohl es vielleicht….

Nun, Lotte hielt es für sinnlos, darüber nachzudenken. Es war eben so und nicht anders.

 

Die Katze saß geduldig in der Mitte des Teppichs und wartete. Lotte sah sie missvergnügt an. Was wollte die Katze von ihr? Warum war sie ihr hierher gefolgt? Vielleicht sollte sie ihr doch etwas zu Fressen geben? Man wusste ja nicht,  ob das Tier jemandem gehörte. Und sie wusste ja, wie die Leute waren. Erst nahmen sie so ein Tier ins Haus, und dann kümmerten sie sich nicht darum. Man kannte das ja. Mühsam stand sie auf und begann nach etwas Fressbarem für das Tier zu suchen.  Sie wusste nicht so recht, womit man eine Katze füttert, wenn man keine entsprechenden Vorräte im Haus hatte. In einer Lade fand sie eine Dose Thunfisch. Abwägend betrachtete sie die Dose. Irgendwie fast schade für ein dahergelaufenes Tier. Aber dann gab sie sich einen Ruck  und öffnete die Dose.  „Komm her, Katze!“  rief sie. Eigentlich hatte sie „Katzenvieh“ rufen wollen, aber sie verkniff es sich im letzten Augenblick. Man konnte ja nie wissen, wie viel so ein Tier verstand und was es über sie denken mochte. Ein wenig wunderte sie sich über sich selbst, denn gewöhnlich war es ihr gleichgültig, was die anderen über sie dachten. Sie glaubte sowieso nicht daran, dass außer ihr jemand imstande war, überhaupt vernünftig zu denken. Und schon gar keine Katze. „Nun komm schon her, Katze!“ Abwartend sah sie die Katze an, aber die saß da wie eine Statue und rührte sich nicht. Sie mochte wohl keinen Thunfisch. „So ist es recht“, murrte Lotte, „obdachlos sein und dann noch Ansprüche stellen!“ Die Katze antwortete soweit nicht. Sie saß nur stumm da. „Dir geht es einfach zu gut“, schimpfte Lotte weiter. „Einen Krieg müsstest du erleben. Dann wüsstest du, was Hunger ist. Auf Knien würdest du um eine Dose Thunfisch betteln. Und an die hungernden Katzenkinder in Afrika solltest du denken!“ Die Katze hörte aufmerksam zu und regte sich nicht.

Lotte hätte hinterher in keiner Weise mehr zu sagen gewusst, warum sie plötzlich in ihr Wohnzimmer zum Schrank mit dem guten Geschirr ging, eine wunderschöne Glasschale mit Goldrand – ein Erbstück ihrer Großmutter – herausnahm, sie mit Erdbeeren füllte,  reichlich Schlagsahne darüber verteilte und die Schale der Katze hinstellte. Und siehe da, ohne auch nur ein einziges Mal abzusetzen fraß die Katze die Schale leer.

Später saßen sie einander in Lottes Wohnzimmer gegenüber. Lotte in ihrem Lieblingssessel, die Katze auf dem Sofa. Nichts wies darauf hin, dass die Katze vorhatte, wieder zu gehen. Und es ließ sich nicht leugnen, Lotte begann sich in Gesellschaft der Katze wohlzufühlen. Ein ungewohntes Gefühl. „Bilde dir bloß nicht ein, dass ich dich mag“, sagte sie.

Draußen hatte es zu schneien begonnen.

Nachdenklich saß Lotte in ihrem Sessel. Im Raum war es fast dunkel. Endlich raffte Lotte sich auf, stand auf und knipste ihre altmodische Stehlampe mit den braunen Fransen an. Dann ging sie zum Fenster, um die Vorhänge zu schließen. „Wenn du hier schlafen willst“, sagte sie zur Katze, „dann musst du einen Namen haben. Hier schlafen keine namenlosen Unbekannten.“

„Ich heiße Torosa“, sagte die Katze.

„So, so. Ich dachte eher an einen vernünftigen Katzennamen, so wie Leni oder Grete“, gab Lotte geistesabwesend zurück.

„Nein, ich heiße Torosa“, ertönte es abermals vom Sofa. Was war das eben? Jetzt erst wurde Lotte bewusst, dass die Katze geantwortet hatte und sie erschrak heftig. Als sie sich jedoch nach der Katze umwandte, hatte sich diese auf dem Sofa eingerollt und schien zu schlafen. Lotte atmete tief durch. „Was hab ich mir da bloß eingebildet?“ murmelte sie. „Aber wenn sie will, so soll sie eben Torosa heißen. Wenngleich Leni auch genügt hätte.“

 Am nächsten Morgen erwachte Lotte mit dem unbestimmten Gefühl, dass jemand auf ihrem Kopfkissen stand und sie anstarrte. Sie schlug die Augen auf und blickte schnurgerade in Torosas goldgelbe Augen. „Ach du bist ja auch noch da“, seufzte sie und schloss gleich wieder die Augen. „Wann gibt es bei dir Frühstück?“ frage Torosa höflich.

Lotte riss die Augen auf und starrte die Katze an. Die saß jedoch ruhig da und tat, als hätte sie kein Wort gesagt. Lotte ließ sich jedoch nicht mehr täuschen. Diese Katze unterhielt sich mit ihr, wie immer sie das auch anstellte.

Lotte richtete sich auf und schwang ihre Beine über den Bettrand. „Frühstück?“ frage Torosa hinter ihr. „Ja, Frühstück.“ Lotte sah sich nicht um, denn sie hatte keine Zweifel mehr, dass diese Katze so eine Art Zauberkatze war.

Ächzend erhob sich und schlurfte in die Küche. Sie widerstand ihrem Impuls, Kaffee aufzusetzen, sondern spülte erst die goldgeränderte Schüssel, füllte sie mit den übrig gebliebenen Erdbeeren von gestern, goss den Rest der Schlagsahne darüber und stellte die Schüssel für Torosa auf den Tisch.

Danach kochte sie Kaffee für sich selbst. Als sie sich umdrehte, saß Torosa bereits possierlich auf dem Stuhl vor ihrer Schüssel, fraß jedoch nicht. „Was ist?“ fragte Lotte. „Schmeckt es dir nicht?“ Torosa schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich warte auf dich“, antwortete sie. „Meinst du etwa, unsereiner hätte keine Erziehung?“

„Nein, auf so einen Gedanken wäre ich niemals gekommen“, murmelte Lotte entschuldigend. Dann füllte sie den fertigen Kaffee in eine Tasse und setzte sich zu Tisch.

Lotte trank ihren Kaffee und betrachtete nachdenklich Torosa, die ohne Hast ihre Erdbeeren fraß.

Was wäre, wenn sie die Katze behielte? Weihnachten stand vor der Tür und sie war ganz allein. Das waren bereits die dritten Weihnachten ohne ihren Mann. Ihre Schwester und ihre Kusine würde sie erst zu Ostern wiedersehen, denn sie hatte die beiden doch recht heftig beleidigt. Und Freunde hatte sie nicht. Nicht, dass sie welche gebraucht hätte. Oh nein! Sie kam schon allein zurecht. Aber manchmal drückte sie schon die Einsamkeit, obwohl sie das sich selber gegenüber nur sehr ungern zugab. Wenn sie die Katze behielte, hätte sie doch etwas Gesellschaft, und nebenbei hätte sie eine gute Tat getan. So ein heimatloses Geschöpf bei sich aufzunehmen … wer machte so was schon? Und eine gute Tat konnte nie schaden, fand Lotte. Man konnte immerhin nicht wissen, ob es nicht doch so etwas wie eine himmlische Gerechtigkeit gab.

„Soll ich dich behalten, Torosa?“ fragte sie unvermittelt.

Torosa hob den Kopf und wandte Lotte ihr kleines sahneverschmiertes Gesicht zu. „Mich behalten?“ fragte sie erstaunt. „Wie stellst du dir das vor?“ „Ja, aber…ich dachte...“, Lotte war etwas verwirrt und wusste nicht, was sie sagen sollte, und das passierte ihr selten.  „Du kannst mich doch nicht einfach behalten! Ich bin doch kein Möbelstück!" Torosa runzelte unwillig die Stirn. „Ja, aber ich dachte…", begann Lotte noch einmal.  „Denk nicht so viel", unterbrach Torosa sie,  „versuch es einfach mit einer höflichen Einladung."

Das fand Lotte denn doch ziemlich unverschämt. Sie öffnete den Mund, um Torosa eine entsprechende Antwort zu geben. „Ja?“ frage Torosa freundlich. „Möchtest du etwas sagen?“ Lotte atmete tief aus. „Möchtest du bei mir wohnen, Torosa?“ Eigentlich hatte sie etwas ganz anderes sagen wollen, aber sie wunderte sich kaum noch über sich selbst.

Torosa antwortete nicht sofort. „Wohnen?“ fragte sie dann gedehnt. „Nun, so weit wollen wir denn doch nicht planen. Aber ich könnte zumindest bis zum 11. Januar bleiben.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie noch hinzu: „Du hast es weiß Gott bitter nötig, dass ich bleibe.“

Lotte zog scharf die Luft durch die Nase und setzte zu einer gehörigen Antwort an. Dann atmete sie wieder aus und fragte friedfertig: "Warum gerade bis zum 11. Januar?" Doch darauf erhielt sie keine Antwort.

Mittlerweile hatte es sehr heftig zu schneien begonnen. „Gut, dass ich heute nicht aus dem Haus muss“, dachte Lotte. Doch dann fiel ihr Blick auf Torosa. Und im selben Augenblick wusste sie, dass das nicht stimmte. Erdbeeren und Schlagsahne! Ja, ja, Torosa, spar dir deinen hungrigen Blick. Ich hätte schon von alleine daran gedacht.

Am Abend saßen sie einander im Wohnzimmer gegenüber. Sie hatten bereits zu Abend gegessen und Lotte strickte an einem Schal. Torosa tat nichts. Im Schein der Stehlampe leuchtete ihr Fell blauer denn je. "Weihnachten", murmelte sie plötzlich und blinzelte Lotte an. "In drei Tagen ist Weihnachten. Wir müssen noch Weihnachtsgeschenke kaufen."

Lotte ließ ihr Strickzeug sinken und starrte ins Leere.

"Geschenke?" fragte sie nach einer Weile langsam. "Ich kaufe niemals Geschenke. Ich wüsste auch gar nicht, wozu und für wen."  Herausfordernd sah sie Torosa an. Doch die antwortete nicht.

 

Lotte nahm ihr Strickzeug wieder auf und strickte wie besessen weiter. Was glaubte Torosa eigentlich? Lotte wusste schon, was sie tat. Sie machte keine Geschenke und sie bekam auch keine Geschenke. Und sie brauchte auch keine! Die Leute im Haus wollten sowieso nichts mit ihr zu tun haben, und ihre Schwester und ihre Kusine hielten wahrscheinlich auch nicht viel von ihr. Sie hatte ihr Leben immer schon so gelebt. Oder zumindest schon lange Zeit. Und sie war gut damit gefahren. Auch an die Einsamkeit hatte sie sich gewöhnt.

 

"Manchmal ist es hilfreich, seine Entscheidungen neu überdenken", hörte sie plötzlich Torosa. "Manchmal genügt eine Kleinigkeit, die man anders macht, und alles ist anders. Und einsam ist man immer nur dann, wenn man sich selbst dafür entscheidet."

 

Lotte sah verwirrt auf. An diese Gedankenleserei von Torosa war sie noch nicht gewöhnt. "Einfach etwas anders zu machen", murmelte Torosa, "einfach etwas zu tun, was man sonst nie tut, kann alles verändern. Es wäre einen Versuch wert."

Nein, darüber wollte Lotte gar nicht erst nachdenken. Ganz bestimmt nicht. Dennoch ging ihr das, was Torosa gesagt hatte, nicht aus dem Kopf.

"Wer bist du eigentlich, Torosa?" fragte sie nach einer Weile. "Na, eine Katze", antwortete Torosa heiter, "das sieht man doch, oder?" Lotte schüttelte den Kopf. "Du bist keine normale Katze. Vielleicht bist du eine Fee, oder eine Elfe oder ein Engel oder so." Torosa lächelte nur.

 

In dieser Nacht konnte Lotte lange nicht einschlafen. Ächzend wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, und es war ihr nicht möglich, die Gedanken in ihrem Kopf abzustellen. Entscheidungen überdenken? Etwas anders machen? Was Torosa wohl damit gemeint haben mochte? Was sollte ausgerechnet sie denn anders machen? Zugegeben – einsam fühlte sie sich manchmal schon. Aber das war doch nicht ihre Schuld. Und schon gar nicht ihre Entscheidung! Da war Lotte sich ganz sicher.  Sie hatte einfach Pech und kannte die falschen Menschen. Ihre Schwester und ihre Kusine, die partout immer Recht haben wollten. Ihre Nachbarn, die das Haus mit ihren lauten, ungezogenen Kindern bevölkerten. Nein, nein, sie hatte einfach Pech. Und es war immer noch besser, einsam zu sein, als sich mit frechen Kindern und streitsüchtigen Verwandten herumzuärgern. „Also DOCH deine Entscheidung!“ hörte sie Torosas Stimme ganz nah an ihrem Ohr. Lotte zuckte zusammen. Warum kümmerte sich diese unmögliche Katze nicht um ihre eigenen Angelegenheiten? Schließlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

 

Als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war es noch fast dunkel. Neben ihr auf dem Kissen saß Torosa und sah sie goldgelbäugig an. Lotte räusperte sich. „Nun ja, man könnte ja die Schwester und die Kusine anrufen. Aber ich fürchte, das bringt nichts. Das führt wieder nur zu Streit. Und für so viel Aufregung bin ich einfach zu alt.“ Torosa schwieg. „Und die Nachbarn“, fuhr Lotte fort, „ich fürchte, wenn man ihnen den kleinen Finger reicht, nehmen sie die ganze Hand. Man weiß ja, wie die Leute sind.“ „So“, sagte Torosa ruhig, „das fürchtest du also. Und was tätest du, wenn du nichts fürchtetest?

Ja, was täte sie tatsächlich, wenn sie nichts fürchtete? Nachdenklich starrte Lotte an die Decke. Was könnte man nicht alles tun, wenn man nichts fürchtete! Sie würde ihre Schwester und ihre Kusine anrufen, und ihnen frohe Weihnachten wünschen. Den Nachbarskindern würde sie neue Mützen stricken. Zu Kaffee und Kuchen würde sie die ganze Familie einladen. Mit den Kindern spielen könnte sie. Und spazieren gehen. Ja, richtig anfreunden würde sie sich mit ihnen. Aber das ging ja alles nicht, denn sie fürchtete eben…

„Ich fürchte dies, ich fürchte das“, sprach Torosa mitten in ihre Gedanken, „wozu soll das viele Fürchten eigentlich gut sein? Macht es dein Leben leichter? Schöner? Fröhlicher?“ Lotte blickte Torosa überrascht an. „Nein, natürlich nicht“, antwortete sie verwirrt.

„Und worauf wartest du dann noch?“ fragte Torosa. Lotte runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Plötzlich überzog ein Lächeln ihr Gesicht. Torosa hatte Recht. Worauf wartete sie eigentlich?

Schwungvoll setzte sie sich auf. „Torosa“, sagte sie, „lass uns aufstehen, wir haben viel zu tun. Wir fahren in die Stadt und kaufen Geschenke.“  Torosa sprang auf und leuchtete und strahlte so blau, dass  der ganze Raum in blaues Licht getaucht war. „Gute Idee“, schnurrte sie, „das tun wir.“

Eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Weg. "Weißt du", erzählte Lotte während sie die Treppe hinunter kletterten, "ich glaube, die Nachbarn haben nicht viel Geld. Wir werden für die Kinder Mützen kaufen, denn zum Stricken ist es schon zu spät.  Und vielleicht einige Spielsachen oder Bücher. Und Schokolade."

 

Als sie am Abend mit Schachteln und Päckchen beladen wieder nach Hause kamen, fühlte Lotte sich froh und glücklich wie lange nicht mehr. Sie hatten für die Nachbarskinder Mützen gekauft. Und Spielsachen und Bücher. Und auch Schokolade. Genauso wie Lotte es vorgehabt hatte. Und eine Teekanne und Teetassen für die Eltern. Den ganzen Abend verbrachte Lotte mit dem Einpacken der Geschenke. Ob die Nachbarn wohl eine Einladung zu Kaffee und Kuchen am ersten Weihnachtsfeiertag annehmen würden? "Frag sie einfach", sagte Torosa.

Ja, genau das würde sie tun.

 „Und vergiss nicht, deine Schwester und deine Kusine anzurufen, um ihnen frohe Weihnachten zu wünschen", fügte Torosa noch hinzu.

„Nun, ich fürchte….“

Weiter kam Lotte nicht. „Ruf sie an!" Torosa war unerbittlich. "Ja, ich ruf sie an", seufzte Lotte. Diese Katze hatte etwas Tyrannisches an sich.

 

Am Weihnachtsmorgen hatte Lotte vor, die Geschenke zu den Nachbarn zu bringen. "Torosa", fragte sie unsicher, "Was meinst du? Wird es ihnen überhaupt Recht sein? Ich war nie besonders freundlich zu ihnen." Aber von Torosa war diesbezüglich keine Hilfe zu erwarten. "Geh hin und finde es heraus", antwortete sie kurz.

 

Zwei Minuten später stand Lotte mit Päckchen beladen vor der Wohnungstür der Nachbarn. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Zögernd drückte sie ihren Finger auf den Klingelknopf.

 

Tage später dachte Lotte noch an diesen ganz besonderen Weihnachtsabend zurück. An die Freude der Familie – nicht nur über die Geschenke, sondern einfach darüber, dass sie gekommen war - und an die Freundlichkeit und Offenheit, mit der sie sie aufgenommen hatten.

Seither hatte Lottes Leben sich verändert. Diese Menschen in der Nebenwohnung waren zu Freunden geworden. Besonders die Kinder ließen keine Einsamkeit mehr in Lottes Leben aufkommen.

Morgen wollte ihre Schwester zu Besuch kommen. Lotte freute sich, denn sie hatte ihre Schwester sehr gern. Und mit ihrer lieben Kusine hatte sie in der letzten Woche dreimal telefoniert. Warum sie sich früher nicht miteinander vertragen hatten, konnte Lotte gar nicht mehr verstehen.

Wie war ihr Leben doch schön geworden.

 

Behaglich lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und lächelte.

Da fiel ihr Blick auf den Kalender. Es war der 11. Januar. Lotte erschrak. Torosa! Wo war Torosa?

„Sagte ich nicht von Anfang an, dass ich nur bis zum 11. Januar bleiben würde?“ ertönte Torosas Stimme in ihrem Kopf.

Langsam wandte Lotte den Kopf zur Sofaecke. Torosas Platz war leer. Nur ein zarter blauer Schimmer war zurückgeblieben.

Und irgendwann verschwand auch der.




Donnerstag, 2. November 2023

Übung zur Steigerung der Herzkohärenz

Möchtest du etwas Gutes für dich tun? Etwas, das ganz einfach ist und wenig Zeit braucht? Möchtest du dein Immunsystem auf Vordermann bringen? Dein Gedächtnis, deine Problemlösungskompetenz, deine innere Heilkraft, deine Kreativität, deine Intuition stärken? Dann ist diese Übung genau das Richtige für dich.

Jahrelange Forschungen des HeartMath-Instituts haben gezeigt, dass das bewusste Fühlen von hochschwingenden Emotionen wie Liebe, Dankbarkeit, Wertschätzung, Freude etc. sich fühlbar positiv auf deine Gesundheit auswirkt und dein Gesamtbefinden auf ein ganz neues Level bringt. Der Körper wechselt sozusagen in einen anderen Zustand. Wenn Körper und Gehirn optimal zusammenarbeiten, fühlen wir uns wohl, ausgeglichen, gesund und leistungsfähig. Es genügen bereits wenige Minuten, die du mit ein bisschen Übung überall durchführen kannst. Die Wirkung der Übung hält etwa sechs Stunden an. Es wäre also sinnvoll, die Übung alle sechs Stunden zu wiederholen, um dauerhaftes Wohlbefinden zu erzeugen.

  1. Richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Herzbereich. Es wirkt unterstützend, wenn du dabei deine Hand auf dein Herz legst
  2. Lass deinen Atem langsam werden und deine Gedanken zur Ruhe kommen. Mach nach jedem Einatmen eine kleine Pause, bis der Körper wieder nach dem Ausatmen verlangt.
  3. Atme bewusst durch deinen Herzbereich. Beim Einatmen lass den Atem durch dein Herz nach innen strömen, beim Ausatmen wieder nach außen.
  4. Erhöhe deine Schwingung, indem du hochschwingende Gefühle erzeugst, wie Liebe, Wertschätzung, Dankbarkeit, Freude und Mitgefühl. Das fällt dir leichter, wenn du dich an Situation, in denen du diese Emotionen fühltest, erinnerst, oder wenn du an Menschen oder Tiere denkst, die diese Gefühle in dir auslösen.
  5. Mach diese Übung mehrmals am Tag für einige Minuten


Freitag, 2. Juni 2023

Das 2. Huna-Prinzip: MAKIA - Energie folgt der Aufmerksamkeit

Das ist ganz leicht zu verstehen und im Grunde genommen vollkommen logisch. Worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, dahin lassen wir auch unsere Energie fließen. Egal, ob die Aufmerksamkeit sich dabei auf etwas richtet, das wir wollen, oder auf etwas, das wir nicht wollen. Die Energie macht da keinen Unterschied. Sie verstärkt alles, womit sich unser Geist ständig beschäftigt. 

Wenn wir uns einen Tag lang - oder auch nur eine Stunde lang - konzentriert beim Denken beobachten würden, dann könnten wir wohl feststellen, dass wir 97 Prozent von dem, dem wir so großzügig unsere manifestierende Energie zufließen lassen, gar nicht in unserem Leben haben möchten. Von den 60000 bis 70000 Gedanken, die wir pro Tag denken, sind tatsächlich nur 3 % aufbauend, inspirierend, konstruktiv - kurz gesagt positiv. 25 % unserer Gedanken beschäftigen sich mit Sorgen, Ängsten, Ärger, Befürchtungen - kurz gesagt, sie sind negativ. Und genau das nähren und stärken wir! Der Rest unserer Gedanken ist meist unbewusstes Herumgedümpel, das keinerlei Nutzen hat. 

Dazu kommt noch, dass wir täglich das Gleiche denken! Unsere gestrigen Gedanken unterscheiden sich kaum von unseren heutigen, morgigen und übermorgigen Gedanken. Somit sind wir natürlich auch immer mit denselben Ergebnissen konfrontiert.

Wir sollten uns also ernsthaft fragen, ob wir mit diesen Ergebnissen zufrieden sind. Wenn nicht, dann kommen wir nicht umhin, unseren Focus zu verändern und uns auf das zu konzentrieren, was uns glücklich macht.




Freitag, 19. Mai 2023

Das 1. Huna-Prinzip: IKE - Die Welt ist das, wofür du sie hältst

Was bedeutet das nun genau? Es bedeutet, dass wahr IST, was wir für wahr halten. Es sagt uns, dass jeder in seiner eigenen, selbst geschaffenen Realität lebt. Wir können uns nun getrost die Frage stellen: "Was halten wir denn für wahr? Welche Realität wählen wir Tag für Tag wieder, indem wir sie für wahr halten? Was halten wir für wahr in Bezug auf unsere Partnerschaft, unsere Familie, Freunde, auf unsere finanzielle Situation, auf unsere Ängste, Sorgen, auf die Gesamtsituation im Außen?

Was halten wir für wahr in Bezug auf uns selbst? 

Unsere Gedanken, unsere inneren Bilder, unsere unentwegt ablaufenden inneren Selbstgespräche bestimmen unsere Erfahrungen. Und wenn wir erlauben, dass unsere Gedanken, Bilder und Selbstgespräche unbewusst ablaufen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn unsere Erfahrungen nicht mit unseren Wünschen übereinstimmen.

Leider denken wir zu selten daran, dass wir wählen können. Wir können wählen, woran wir glauben möchten und was für uns wahr ist. Und damit wählen wir unsere Realität. Natürlich geht das nicht von einer Sekunde zur anderen, zumal wir darauf konditioniert sind, für wahr zu halten, was uns von außen als Wahrheit präsentiert wird. Es erfordert in erster Linie Selbstbeobachtung bzw. Beobachten und Verändern der eigenen Glaubenssätze und der damit verbundenen Gefühle, sowie unbedingtes Vertrauen in unsere eigene Gestaltungsmacht, um unsere Wahrheiten und damit unsere Realität nachhaltig zu verändern. So schwierig, wie sich das anhören mag, ist das gar nicht. Wir sind Schöpferwesen, und wir erschaffen uns unsere Gedanken und Gefühle selbst. Wir brauchen also nur noch zu lernen, unser Denken und Fühlen bewusst zu erschaffen, um die Meister unseres Lebens und unserer Realität zu sein.

Und wann immer dann einer daherkommt, der dir die gesamte Negativität seines eigenen Denkens um die Ohren klatschen möchte, so kannst du lächeln und sagen: "Vielleicht in deiner, jedoch NICHT IN MEINER REALITÄT!" 

  


Samstag, 18. Februar 2023

Wer sind wir und was wollen wir?

In einer genialen Dokumentation, die ich heute gesehen habe, erwähnte Gregg Braden einen Ausspruch von einem tibetischen Mönch, der mir ziemlich unter die Haut gegangen ist.
 
" Wir müssen in unserem Leben zu dem werden, was wir in der Welt erfahren möchten!" 

Nicht neu - nicht einmal besonders originell - oft gehört und gelesen - und dennoch traf mich die Bedeutung dieser Aussage heute wie ein Hammer, so dass ich das Video anhalten und mir einmal der unglaublichen Konsequenzen dieses Satzes bewusst werden musste.

Er bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass unsere Erfahrungen unser "So-Sein" widerspiegeln. Das, was wir sind, erfahren wir!
So müssen wir uns wohl notgedrungen die Frage stellen, wer wir im Hinblick auf die von uns gemachten Erfahrungen denn nun tatsächlich sind. 

Und natürlich stellt sich im Umkehrschluss auch die Frage, ob wir wirklich allem, was wir tun, lassen, denken und fühlen, als Erfahrung begegnen möchten.

Viele von uns erleben finanzielle Sorgen, Existenzängste, Krankheiten, unglückliche Partnerschaften, Trennungen, Einsamkeit, oder ziehen permanent Menschen in ihr Leben, in deren Umfeld sie sich nicht wohl fühlen. 
Zudem leben wir in einer spannenden Zeit, welche uns in den letzten Jahren mit vielen unliebsamen Erfahrungen, wie Unsicherheit, Angst oder Frustration geradezu überschüttet hat.

Sehr häufig glauben wir, den Schuldigen für unser Erleben zu kennen. Sehr häufig resignieren wir und glauben, auf Erfahrungen die scheinbar von Außen kommen, ohnehin keinen Einfluss zu haben.
Es ist jedoch UNSER Leben, es sind UNSERE Erfahrungen, und somit UNSERE Verantwortung.

Erst wenn wir bereit sind, die Verantwortung für unser Erleben zu übernehmen, und uns eingestehen, dass vielleicht in unserem "So-Sein" doch noch Luft nach oben ist, erschaffen wir uns eine neue Realität.😊😏



Sonntag, 18. Dezember 2022

Frieden im Herzen

Franziska Freudensprung stand an ihrem Küchenfenster und blickte versonnen in den Garten. Es war noch früh am Abend – eigentlich noch Nachmittag – dennoch begann es bereits zu dunkeln. „In vier Tagen ist Weihnachten“, murmelte sie vor sich hin. Wieder mal Weihnachten. Zum fünften Mal feierte sie Weihnachten nun allein mit ihrem Papagei Fred. Zum fünften Mal ohne ihren Mann Gottlieb. Und noch immer wusste sie nicht, wohin Gottlieb verschwunden war, als er vor fünf Jahren an einem nebligen Novemberabend nur kurz um die Ecke gehen wollte, um die Zeitung zu kaufen.

Vor einer halben Stunde hatte es zu schneien begonnen und ihr Garten war bereits mit einer dünnen, weißen Decke überzogen. Franziska seufzte.  Manchmal legte sich die Einsamkeit so völlig über sie, wie die Schneedecke über ihren Garten und nahm ihr förmlich die Luft zum Atmen. Sie hatte keine Freunde und auch keine Familie. Abgesehen von ihrem Bruder Kuno. Aber den konnte sie leider nicht ausstehen.  Sie sprachen seit Jahren nicht mehr miteinander.

Doch in letzter Zeit musste sie öfter an ihn denken. Stundenlang saß sie in ihrem Schaukelstuhl, schaukelte vor sich hin, und dachte über die Vergangenheit nach. Sie war bereits zwölf Jahre alt gewesen, als Kuno geboren worden war. Sie hatte dieses Baby über alles geliebt. Sie hatte es gehegt und gepflegt, und als der kleine Bruder gelernt hatte, zu laufen, hatte sie ihn ständig mit sich herumgeschleppt und allen ihren Schulkameradinnen präsentiert. Sie war so unglaublich stolz auf diesen kleinen, blonden Jungen gewesen, der alle mit seinem Charme bezaubert hatte. Doch dann war Kuno an Kinderlähmung erkrankt. Und plötzlich war es, als gäbe es Franziska nicht mehr. Alle Aufmerksamkeit hatte sich dem kleinen Bruder zugewandt. Lange Zeit hatte er im Krankenhaus um sein Leben gekämpft. Und jahrelang hatte seine schwere Erkrankung ihm die nahezu ungeteilte Zuwendung der Eltern gesichert und Franziska in den Schatten gedrängt. Was für sie geblieben war, war die Mutter gewesen, die zehnmal am Tag rief: „Franziska, kannst du mir bitte helfen?“ und dafür einmal wöchentlich seufzend sagte: „Wenn ich dich nicht hätte...!“ Und dann ihr Vater, der ihr öfter über die Schulter oder den Kopf gestrichen und dazu gemurmelt hatte: „Ja, ja, meine Liebe.“ Und wenn sie es recht bedachte, bekam niemand mehr von ihm. Weder die Mutter noch der Bruder. Wenn er besonders gute Laune hatte, wurde ein schwungvolles Schulterklopfen daraus und dazu sagte er aus tiefster Überzeugung: „Vortrefflich, vortrefflich!“, wobei keiner genau wusste, was er damit meinte. Dennoch sah sie sich langsam und unaufhaltsam hinter der Pflegebedürftigkeit des kleinen Bruders verschwinden. Franziska war eifersüchtig.

Kuno wurde wieder gesund. Er lernte auch, wieder zu laufen, jedoch blieb in seinem linken Bein eine Schwäche zurück, die ihm für den Rest seines  Lebens einen hinkenden Gang bescherte. In die Familie kehrte wieder Normalität ein. Dennoch blieb Kuno der verwöhnte Liebling, und niemand bemerkte, wie  Franziska, die sich so sehr nach der Liebe der Eltern sehnte, auf die sie so lange hatte verzichten müssen, immer mehr und mehr in sich zurückzog.

Als Franziska 22 Jahre alt war, starben die Eltern im Abstand von wenigen Monaten und Franziska war plötzlich für ihren kleinen Bruder verantwortlich.  So versuchte sie eben, Kuno so gut wie möglich die Eltern zu ersetzen und ihn zu einem anständigen Menschen zu erziehen.

Anfangs war das noch einfach gewesen. Kuno war ein fröhliches Kind, und seine liebenswerte herzliche Wesensart machte es ihm leicht, Sympathien zu gewinnen. Franziska wäre gerne gewesen wie er – so unbesorgt und unbekümmert, so fröhlich und egoistisch. Doch die Verantwortung, für die sie eigentlich viel zu jung war, drückte schwer auf ihre Schultern, und die Fröhlichkeit war ihr schon vor langer Zeit abhandengekommen. Gerne hätte sie auch Freunde gehabt. Aber wie man Freundschaften schloss, hatte sie schon als Kind nicht so recht gewusst.

Kuno entwickelte sich zu einem verwöhnten und kapriziösen jungen Mann, der jegliches Spießertum verachtete. Franziska und die Welt, in der sie lebte, betrachtete er mit nachsichtiger, milder Geringschätzung. Er ließ sein Haar wachsen, und trug gerne bunte, auffallende Kleidung. Und obwohl Franziska gerne gesehen hätte, dass er einen soliden Beruf – wie Koch oder Bankbeamter ergriffen hätte, entschied er sich für eine Lehre als Reisebürokaufmann. Er sprach von fremden Ländern, von denen Franziska noch nicht einmal gehört hatte, und davon, dass er die Welt bereisen wollte. Er las viele kluge Bücher und benützte im Gespräch Wörter, die Franziska nicht verstand. Auch brachte er immer wieder Themen zur Sprache, von denen sie keine Ahnung hatte. Sie hatte niemals Zeit gehabt, sich mit Bildung zu beschäftigen. Franziska begann sich in seiner Gegenwart dumm, unzureichend und hilflos zu fühlen. Kunos überlegenes und immer etwas mitleidiges Lächeln konnte sie nicht mehr ertragen.

Letztendlich wurde Kuno erwachsen, jedoch verstehen konnten sie einander immer noch nicht. Kuno begann nun tatsächlich, als Reiseleiter die Welt zu bereisen. Sie sahen einander nur noch selten. Von irgendeiner seiner Reisen hatte er Fred mitgebracht. Da er jedoch selten zu Hause war, konnte er ihn nicht behalten und seither wohnte Fred bei ihr. Dafür würde sie ihm ewig dankbar sein, denn sie liebte diesen verrückten, lauten Papagei. Aber dass er allem, was sie ihm bieten konnte, den Rücken gekehrt hatte, um eine Welt zu bereisen, von der man nicht viel mehr wusste, als dass sie rund war, konnte sie ihm nicht verzeihen. Und irgendwann brach der Kontakt ab.

Sie war fast 45 Jahre alt gewesen, als sie Gottlieb kennengelernt und geheiratet hatte. Warum, das wusste sie nicht genau. Vermutlich einfach deshalb, weil er sie gefragt hatte, und ihr das Leben nicht viele Alternativen bot. Es war nicht die große, überschäumende Liebe gewesen, jedoch hatte sich mit der Zeit ein solides Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt. Auch ihre Eltern wären mit Gottlieb zufrieden gewesen, hätten sie noch gelebt. Ihr Vater einfach deshalb, weil Gottlieb Schach spielen konnte. Franziska sah es förmlich vor sich, wie ihr Vater Gottlieb mit einer Hand auf die Schulter klopfte und „vortrefflich, vortrefflich“ murmelte, während er mit der anderen Hand die Schachfiguren aufstellte. Und ihre Mutter hätte Gottlieb gemocht, weil er nicht nur ein erstklassiger Buchhalter war, sondern im Notfall auch betonieren konnte. Ihre Mutter pflegte zu sagen: „Und wenn einer noch so ein Lump ist, so lange er betonieren kann, ist nicht alles verloren.“  Nicht dass jemals jemand Gottlieb hätte betonieren sehen. Die Notwendigkeit dazu bestand auch nie. Aber das Bewusstsein, dass er es im Ernstfall konnte, vermittelte schon ein Gefühl der Sicherheit.

Bis Gottlieb in dieser Novembernacht vor fünf Jahren verschwunden war. Franziska war am Boden zerstört. Alles, alles hätte sie ihm verziehen, wäre er nur zurückgekommen. Keine Fragen hätte sie ihm gestellt, ihm keine Vorwürfe gemacht. Doch ihre anfängliche Sorge, ihre Verletztheit und ihr Schmerz hatten sich im Laufe der Zeit erst in hoffnungslose Trauer und danach in Groll und Unversöhnlichkeit verwandelt. Ihretwegen hätte er obdachlos im Park sitzen und erfrieren können. Sie war fertig mit ihm.

Kuno hingegen hatte nie geheiratet. Er war ein etwas sonderbarer Einzelgänger geworden und lebte in einem kleinen Haus am Stadtrand, nur zehn Minuten von Franziskas Elternhaus – in dem sie immer noch lebte - entfernt. Ganz konnte sie nicht verstehen, was aus ihrem schillernden, glänzenden Bruder geworden war. Und vor allem warum. Es mochte wohl sein, dass es einfach zu wenige Menschen gab, die seinen Ansprüchen genügten. Nicht jeder konnte Shakespeare zitieren und verstand Wörter, an denen selbst die Gelehrten im alten Rom noch zu knabbern gehabt hätten. Einen anderen Grund konnte sie sich nicht vorstellen.

Manchmal sah sie ihn aus der Ferne, wenn er, den Blick auf den Boden gerichtet und die Hände auf dem Rücken verschränkt, seinen täglichen Spaziergang absolvierte, seine seltsame bunte Strickmütze über die Ohren gezogen. Sie drehte jedes Mal den Kopf weg.

Doch in letzter Zeit schlich Kuno sich immer öfter in Franziskas Gedanken. Immer öfter dachte sie an den heiteren Jungen, der ihr kleiner Bruder gewesen war, und den sie so geliebt hatte.  Und an den einsamen Erwachsenen, der er geworden war. Aber den Mut, ihn einmal anzusprechen, wenn sie ihn sah, hatte sie nicht.

Auch an Gottlieb musste sie seit einigen Wochen häufig denken. Jahrelang hatte sie sich die Gedanken an ihn nicht erlaubt, sie im Keim erstickt. Doch immer weniger konnte sie die Erinnerung an ihn verdrängen, ihn immer weniger aus ihrem Kopf verbannen.

Das Schrillen der Türklingel riss sie unvermutet aus ihren Gedanken. Fred, der seinen Kopf unter den Flügel gesteckt hatte und vor sich hin gedöst hatte, schrak auf und grölte. „Frrrreudensprrrung!!“  „Das war nicht das Telefon, Blödmann. Das war die Türklingel“, brummte Franziska und schlurfte zur Tür. Umständlich legte sie die Sicherheitskette vor und drehte sie den Schlüssel im Schloss. Dann öffnete sie die Tür und spähte durch den Spalt nach draußen.  Draußen war es dunkel, sie konnte niemanden erkennen. „Ist da jemand?“, frage sie ärgerlich. Alles blieb still. Sie lauschte kurz in die Dunkelheit. Kein Ton war zu hören. Kopfschüttelnd wollte sie die Tür wieder schließen, da sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste.  Sie blieb stehen und linste durch den Türspalt nach draußen. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und sie konnte einen sonderbar gekleideten Jungen erkennen, der da stand und sie unverwandt ansah. Unter einer sonderbaren Zipfelmütze lugten schwarze, struppige Haare und spitze Ohren hervor. Er trug eine bunte Jacke und ebensolche Hosen. „Um alles in der Welt, wer bist du?“ flüsterte sie. Der Junge lachte hell.  „Was bedeutet das schon? Ich bin einfach der, der ich bin. Vielleicht ein Zauberer, vielleicht ein Weihnachtself, vielleicht der Osterhase. Vielleicht bin ich aber auch nur der, der kommt, wenn die Einsamkeit unerträglich wird. Aber was bedeutet es?“

Franziska runzelte verwirrt die Stirn. „Ich glaube, du bist hier falsch. Du hast dich sicher im Haus geirrt. Es ist besser, wenn du so schnell wie möglich wieder verschwindest.“ „Ob es besser ist, kannst du nicht wissen. Du kannst nur wissen, was du im Augenblick möchtest, aber nicht, was besser ist.“

Darauf fiel Franziska so schnell keine passende Antwort ein. Aber sie hatte auch keine Lust, mit diesem seltsamen Jungen vor ihrer Tür zu diskutieren. „Sieh zu, dass du wegkommst….“, wollte sie sagen, jedoch dazu kam sie nicht. Denn in diesem Augenblick grölte Fred aus der Küche: „Verschwindet hier, ihr Lumpenpack! Wir kaufen nichts!“  Der Junge lachte wieder.  „Dein Papagei weiß Bescheid. Aber sorge dich nicht, du brauchst nichts zu kaufen, Franziska. Ich bin da, um dir fröhliche Weihnachten zu wünschen!“ „Fröhliche Weihnachten!“, fauchte Franziska. „Fröhliche Weihnachten!! Danke für den frommen Wunsch. Aber wie soll denn jemand wie ich fröhliche Weihnachten haben? Seit Jahren bin ich allein. Kein Mensch kümmert sich um mich. Kein Mensch denkt auch nur an mich. Nein, das mit den fröhlichen Weihnachten, das wird wohl nichts!“ Herausfordernd starrte sie den Jungen an. Doch der sagte nichts. Betrachtete sie nur neugierig. Auch sie schwieg. Sie wollte dem Jungen die Tür vor der kecken Nase zuwerfen, aber es funktionierte nicht. Sie stand wie erstarrt. Kuno tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Ihr Bruder, der – egal was passierte – immer ihr Bruder bleiben würde. Er war so anders als sie. Sie konnte ihn nicht verstehen. Als hätte der Junge ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Aber er ist doch nicht weniger wert, nur weil du ihn nicht verstehst. Vielleicht musst du ihn gar nicht verstehen. Vielleicht genügt es, ihn zu lieben.“

Und dann Gottlieb. Er hatte sie verlassen, obwohl sie alles für ihn getan hatte. Sie hatte sich so bemüht, ihm eine gewissenhafte Ehefrau zu sein. Da brach es plötzlich aus ihr heraus. „Immer hab ich alles für jeden getan. Ich habe Kuno großgezogen. Habe versucht einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. Ich habe ihm gegeben, was ich konnte. Aber es hat nicht gereicht. Und dann Gottlieb. War ich nicht immer ordentlich und anständig? Die Wohnung war immer aufgeräumt, und er bekam täglich sein warmes Essen, wenn er nach Hause kam. Er hatte immer frisch gewaschene und gebügelte Kleidung. Und mindestens fünfmal täglich habe ich ihm seine Brille geputzt. Aber es war ihm nicht genug. Was hätte ich denn sonst noch tun sollen?“ Sie begann hemmungslos zu schluchzen. All ihre jahrelang aufgestaute Frustration, ihre Enttäuschung und ihr Schmerz stürzten wie ein gewaltiger Wasserfall, der alles mitriss, aus ihr heraus. „Vielleicht habe ich Fehler gemacht. Vielleicht habe ich alles falsch gemacht.  Aber ich tat alles, was ich konnte.“ Das Schluchzen schüttelte sie, sodass sie kaum noch sprechen konnte. Leise hörte sie die Stimme des Jungen. „Wenn wir von Fehlern reden wollen, dann hast ganz gewiss nicht nur du welche gemacht. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, einfach jetzt Entscheidungen zu treffen, die dich glücklich machen.“  „Wie soll ich denn das machen?“ schluchzte Franziska. „Indem du auf dein Herz hörst!“, sagte der Junge. „Auf mein Herz“, schluchzte Franziska, „wie soll denn das gehen?“ Aber sie sprach zu ihrem leeren Garten. Der Junge war weg.

 💛

Vier Tage vor Weihnachten! Gottlieb saß in seinem kleinen Untermietzimmer und rieb seine kalten Hände aneinander, um sie zu wärmen. Die fünften Weihnachten ohne Franziska. Wenn er hätte sagen müssen, warum er an diesem denkwürdigen Tag, als er gegangen war, um die Zeitung zu kaufen, nicht mehr nach Hause zurückgekehrt war – er hätte es nicht gewusst. Zu eng war ihm alles geworden. Zu akkurat. Als er Franziska geheiratet hatte, hatte er das – zumindest zum Teil – deshalb getan, weil er sich nach einem  behaglichen, wohlgeordneten Heim gesehnt hatte. Und natürlich auch, weil er Franziska wirklich gern mochte.

Sie hatte in der Bäckerei gearbeitet, in der er sich täglich seine Frühstückssemmeln kaufte.  Sie hatte auf ihn immer ein wenig schüchtern und zurückhaltend gewirkt, aber überaus tüchtig und umsichtig.

Franziska hatte sich vom ersten Tag ihrer Ehe an Mühe gegeben, alles sauber zu halten und ihn zu versorgen und zu bemuttern. Oh, man konnte ihr nichts vorwerfen. Sie war eine vorbildliche und ordentliche Hausfrau gewesen. Aber hatte sie jemals bemerkt, dass es ihm nicht so wichtig war, ob die Betten jeden Samstag neu bezogen wurden und jedes Staubkörnchen entfernt wurde, ehe es auch nur Zeit fand, sich auf irgendeinem Möbelstück häuslich niederzulassen?

Hatte sie jemals bemerkt, dass er manchmal einfach gerne mit ihr dagesessen und geredet hätte, dass er manchmal gerne etwas mit ihr unternommen hätte? Dafür war nie Zeit gewesen. Sie hatte das Haus geputzt, sie hatte seine Brillen geputzt, und das bis zu fünfzehn mal täglich. Und wenn sie nicht geputzt hatte, hatte sie Deckchen gehäkelt und das gesamte Haus damit dekoriert. Sogar den Klo-Deckel hatte sie mit einem schicken Mäntelchen versehen. Damit und mit ihrer Fürsorge und ständigen Betriebsamkeit hatte sie ihn manchmal halb in den Wahnsinn getrieben.

Er seufzte. Dennoch hatte er sie gern gehabt, seine Franziska. Er hatte sie immer noch gern. „Dann wird es Zeit, dass du eine Entscheidung triffst, die dich glücklich macht!“ Gottlieb erschrak fürchterlich. Vor ihm stand wie aus dem Boden gewachsen eine höchst sonderbare Gestalt. Irgendwie sah das Wesen aus wie ein kleiner Junge, seine Kleidung war jedoch keine normale Jungenkleidung, und seine Ohren waren spitz. „Wer bist du?“, flüsterte Gottlieb. Und wie bist du hier hereingekommen?“  Der Junge ging nicht auf seine Frage ein. „Hast du ihr jemals gesagt, was dir wichtig ist?“ fragte er stattdessen. „Und hast du auch wirklich einmal darauf geachtet, was ihr wichtig ist?“

Gottlieb schloss verwirrt die Augen. Träumte er? Was war hier los? Er öffnete den Mund zu einer Antwort… zu einer Frage… doch er brachte keinen Ton hervor. Und als er es endlich wagte, seine Augen wieder zu öffnen, war der Junge weg. Jedoch schien ihm, als hörte er aus der Ferne eine Stimme flüstern. „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht.“

Eine Entscheidung, die mich glücklich macht, dachte Gottlieb verwirrt. Dafür war es wohl zu spät. Er würde es nie wieder wagen, nach Hause zurückzukehren. Franziska würde ihn ja auch gar nicht zurücknehmen wollen, da war er sich sicher. Dafür hatte er ihr zu viel angetan. Aber wenigstens anrufen könnte er sie. Nur um ihr frohe Weihnachten zu wünschen und ihr zu sagen, wie leid ihm alles täte. Er wusste jedoch nicht, ob er den Mut dazu haben würde. „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht!“, hörte er da ganz leise die Stimme des Jungen aus der Ferne. Oder hatte er sich das nur eingebildet?

Egal wie. Er würde tun, was zu tun war. Langsam und bedächtig griff er nach dem Telefonhörer.

💚 

Vier Tage vor Weihnachten. Es hatte zu schneien begonnen, und Kuno beschloss, seinen täglichen Spaziergang durch den Park heute bis zum Wäldchen auf der anderen Flussseite auszudehnen. Die Hände auf dem Rücken, sein linkes Bein hinter sich her schleifend, ging er die verschneiten Parkwege entlang. Sein hinkender Gang störte ihn schon längst nicht mehr. Früher, ja da war das schlimm gewesen. Wenn seine Schulkameraden durch die Straßen rannten, wenn sie zum Fußballspielen gingen, zum Schifahren und Rollschuhlaufen, und er nirgends mithalten konnte, da fraß ihn manchmal die Verzweiflung über seine Behinderung fast auf. Als er älter wurde, und Mädchen in seinem Leben eine Rolle zu spielen begannen, da merkte er, dass leider nicht nur die inneren Werte zählten, wie seine Schwester ihn immer zu trösten versuchte. Nach zwei herben Enttäuschungen, entschied er, allein zu bleiben. Er verkroch sich hinter seinen Büchern, fraß Bildung in sich hinein und bemerkte bald, dass seine Schwester mit ihm nicht mehr mithalten konnte.   Sie war zwar gutmütig und tüchtig, häkelte endlos viele Deckchen und verfolgte ihn ständig mit einer Kleiderbürste, um nicht vorhandene Fusseln von seiner Kleidung zu bürsten,  aber für seine Begriffe war sie doch sehr einfach konstruiert

Ihr war es immer nur wichtig gewesen, das Haus in Ordnung zu halten und ihn zu versorgen. Für mehr interessierte sie sich nicht. Wenn er mit ihr philosophische oder politische Gespräche führen wollte, hatte sie sich stets hinter Hausarbeit versteckt oder blitzartig ihr stets griffbereites Häkelzeug an sich gerissen und wie von Furien gehetzt losgehäkelt.

Dennoch war sie war von ihnen beiden immer die Starke, Überlegene gewesen. Allein schon deshalb, weil sie die Ältere war.

Nun war er wenigstens der Kluge und Gebildete. Er mochte Franziska, aber er konnte nie verstehen, wie ihr das Leben, das sie gewählt hatte, genügen konnte. Sie hatte nie nach Höherem gestrebt. Ihm wurde das Dasein, das sie führten, bald zu eng und zu kleinkariert. Er wollte weg, wollte die Welt sehen, wollte Erfahrungen sammeln. Er wollte der Welt zeigen, dass er auch mit seiner Behinderung ein ernstzunehmender Mensch war. Franziska hatte ihn nur verständnislos angesehen, als er versucht hatte, ihr das zu erklären. „Du hast doch alles, was du brauchst!“, hatte sie gesagt und den Kopf geschüttelt. Damit war das Thema für erledigt gewesen und sie war wieder zur Tagesordnung übergegangen.

Er hatte in seinem Leben viele fremde Länder bereist, er hatte viel gesehen und viel gelernt. Und nun – im Alter von nahezu 55 Jahren, begann er sich erstmals zu fragen, ob er denn gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. „Dazu müsstest du dir erst einmal klarmachen, wonach du gesucht hast!“, hörte er plötzlich eine Stimme neben sich sagen. Er zuckte zusammen und blickte zur Seite. Er hatte diesen sonderbaren Jungen, der da plötzlich neben ihm ging, nicht kommen gehört. „Wer bist du?“ knurrte er, „und woher kommst du so plötzlich?“

Der Junge lachte. „Das fragen mich alle! Wenn du unbedingt einen Namen für mich brauchst, dann nenn mich einfach Marakantandel. Oder von mir aus auch – falls dir Marakantandel zu lang ist – Kurt. Es ist egal.“

Kuno runzelte die Stirn und sah den Jungen genauer an. Das Gesicht sah aus wie ein ganz normales Jungengesicht, aber der Junge wirkte wie verkleidet mit seiner komischen Mütze und der bunten Kleidung. Und er hatte auffallend spitze Ohren.  So etwas wie diesen Jungen konnte es eigentlich gar nicht geben. Vermutlich lag diese ganze Erscheinung daran, dass er sich heute ein zweites Glas Glühwein genehmigt hatte. Ja genau, das musste es sein.

Der Junge lachte hell und fröhlich. „Ja genau, so wird es sein. Und hättest du noch ein drittes Glas Glühwein getrunken, würdest du mich sogar doppelt sehen.“ Der Junge schüttelte sich vor Lachen.

Kuno wurde ärgerlich „Geh nach Hause und zieh dir anständige Kleidung an“, fuhr er denn Jungen an. „Und mach um alles in der Welt was mit deinen Ohren. Das sieht ja lächerlich aus.“ 

Der Junge ignorierte seine Aufforderung. „Weißt du, wonach du dein ganzes Leben lang gesucht hast?“ fragte er stattdessen. „Wenn nicht, dann denk drüber nach. Vielleicht begreifst du dann auch, dass du nicht um die halbe Welt hättest reisen müssen, um es zu finden.“

„Lass mich in Ruhe“, brummte Kuno, „es ist ohnedies zu spät, etwas zu ändern.“

„Du brauchst ja auch nicht die Vergangenheit zu ändern. Du brauchst ja nur JETZT eine Entscheidung treffen, die dich glücklich macht. Verstehst du? JETZT!“

Plötzlich wusste Kuno, was er sein Leben lang gesucht hatte. Wie eine Erleuchtung kam es über ihn.

„Ein bisschen Frieden im Herzen hätte ich gebraucht“, flüsterte er. „Mit mir selbst hätte ich Frieden schließen müssen. Franziska konnte nichts dafür. Sie konnte nichts für meine Krankheit. Sie konnte nichts für meine Behinderung. Sie tat, was sie konnte.“

„So ist es“, sagte der Junge. „Du bist, wer du bist. Nichts kann daran etwas ändern. Auch deine Behinderung ändert nicht, wer du bist. Dein Leben lang damit zu hadern ist deine eigene Entscheidung. Du musst dich nicht beweisen, da du ja sowieso bist, der du bist. Du musst das nur begreifen, dann hast du, was du dein Leben lang gesucht hast.“

„Den Frieden im Herzen“, murmelte Kuno.

Und völlig unvermutet spürte er ihn plötzlich ganz tief in sich drin, diesen Frieden.

„Triff ab jetzt nur mehr Entscheidungen, die dich glücklich machen“, sagte der Junge.

„Das werde ich tun“, flüsterte Kuno, „das werde ich ganz gewiss tun.“  Jedoch da war keiner mehr, dem er das hätte sagen können.

 💜

Lange Zeit saß Franziska nur still da. Sie fühle sich seltsam leicht und friedlich. Hatte sie das alles nur geträumt? „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht!“ hörte sie die Stimme des Jungen immer noch in ihrem Ohr. Dieser einfache Satz hatte bewirkt, dass in ihr Zuversicht entstanden war. Alles könnte gut werden. Ihre eigenen Entscheidungen hatten damit zu tun.

Sie schrak zusammen als plötzlich das Telefon klingelte. „Frrrreudensprrrrung! Wir kaufen nichts!“ grölte Fred durchs Haus.  Mühsam erhob sie sich und schlurfte ins Wohnzimmer. „Freudensprung“, meldete sich, und sie merkte, dass ihre Stimme anders klang als sonst. Irgendwie heller, fröhlicher. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Sie hörte nur leises Atmen. „Hallo? Ist da jemand?“ fragte sie nochmal. „Franziska!“ hörte sie eine wohlvertraute Stimme an ihr Ohr klingen. Gottlieb! Gottlieb hatte angerufen. Sie hielt die Luft an. „Franziska, ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst.“ Gottliebs sprach leise und seine Stimme klang heiser. „Aber ich möchte, dass du weißt, wie unendlich leid mir alles tut.“ Sie schwieg nur eine Sekunde lang. Dann sagte sie mit sanfter Stimme. „Komm nach Hause, Gottlieb. Komm einfach nach Hause!“ 

Franziska saß immer noch fassungslos neben dem Telefon, nachdem sie schon längst aufgelegt hatte. Gottlieb würde nach Hause kommen. Sie bemerkte zum ersten Mal, wie sehr er ihr gefehlt hatte, wie sehr sie ihn liebte.

Wenn doch nur auch Kuno kommen würde. Wie sehr wünschte sie sich das. Aber der war vermutlich zu stolz und zu starrköpfig. Da fielen ihr die Worte des Jungen wieder ein. „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht.“ Das war es. Sie musste nicht warten, bis Kuno eine Entscheidung traf. Sie konnte selbst handeln.

Rasch eilte sie in ihre Garderobe, zog Schuhe und Mantel an und verließ entschlossen ihr Haus. Sie würde zu Kuno gehen und ihn für den Weihnachtsabend einladen.

Es schneite immer noch und sie zog den Kopf ein, als sie raschen Schrittes ihren Garten durchquerte. So sah sie auch nicht die dunkle Gestalt, die gerade ihren Garten betrat. Geradewegs rannte sie in sie hinein. Erschrocken hob sie den Kopf und traute ihren Augen nicht. Kuno! Kuno war zu ihr gekommen. „Guten Abend, Franziska. Wohin so stürmisch?“ fragte er mit seiner tiefen, warmen Stimme. „Ich wollte gerade zu dir!“ stammelte sie verwirrt. „Ich wollte dich für Weihnachten einladen.“ „Das trifft sich, denn ich hatte ähnliches im Sinn!“ Kuno lächelte. Er lächelte glücklich wie nie zuvor. Keine Herablassung, keine Geringschätzung lag in seinem Lächeln. Warm und herzlich lächelte er.

So kam es, dass am Weihnachtsabend drei glückliche Menschen und ein gesprächiger Papagei  in Franziskas Wohnzimmer saßen. Vor einem Weihnachtsbaum, den sie im letzten Augenblick noch gekauft und geschmückt hatten.

Und alle drei dachten voller Dankbarkeit an den Jungen, von dem sie sich nicht sicher waren, ob sie ihn nicht nur geträumt hatten und von dem sie den anderen nie erzählen würden.


E.M.

Freitag, 4. März 2022

Fragen über Fragen

Wir leben in turbulenten Zeiten. Die ständig auf uns einprasselnde aggressive Impfpropaganda lässt uns seit nahezu zwei Jahren nicht zum Durchatmen kommen, und nun sehen wir uns nahtlos mit Kriegspropaganda konfrontiert. 

Ich kann nicht glauben, was derzeit in den Medien stattfindet. Und noch weniger mag ich glauben, was nun in vielen Menschen zum Vorschein kommt.

Ich frage mich ernstlich: Die Menschen die laut um den Weltfrieden schreien, sind das dieselben Menschen, die jetzt russische Mitbürger ausgrenzen, diskriminieren, anspucken, beschimpfen, in Krankenhäusern nicht mehr behandeln wollen und in Geschäften nicht mehr bedienen?

Die Menschen, die ukrainische Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen würden, sind das dieselben Menschen, welche vor wenigen Jahren laut applaudiert und gejubelt haben, wenn syrische Flüchtlinge im Meer ertrunken sind?

Die Menschen, die jetzt um keinen Preis russische Produkte kaufen können, sind das dieselben Menschen, welche kein Problem damit haben, mit dem Kauf von Billigstprodukten mieseste Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit in ausgebeuteten Ländern zu unterstützen?

Die Menschen, die nicht einmal wissen, dass in der Ukraine seit acht Jahren Krieg herrscht, sind das dieselben Menschen, die nun tatsächlich glauben, die derzeitigen Vorgänge bzw. die Gründe dafür zu durchschauen?

Die Menschen, die den Medien bezüglich der Corona-Propaganda kein Wort mehr glauben, sind das dieselben Menschen, die die Kriegspropaganda und Hetzpropaganda nun, ohne ein Wort davon zu hinterfragen, mit einer Art morbidem Vergnügen in sich aufsaugen?

Die USA führten unter der Regierung Obamas insgesamt 2663 Tage Krieg in den verschiedensten Ländern, und Obama hat dafür den Friedensnobelpreis erhalten. Die Menschen, die das gut fanden, sind das dieselben, die sich nun anmaßen, Gut und Böse auch nur im Ansatz unterscheiden bzw. darüber urteilen zu können?

Fragen über Fragen...




Freitag, 24. Dezember 2021

Frieden im Herzen

Vier Tage vor Weihnachten. Franziska Freudensprung stand an ihrem Küchenfenster und blickte versonnen in den Garten. Es war noch früh am Abend – eigentlich noch Nachmittag – dennoch begann es bereits zu dunkeln. „In vier Tagen ist Weihnachten“, murmelte sie vor sich hin. Wieder mal Weihnachten. Zum fünften Mal feierte sie Weihnachten nun allein mit ihrem Papagei Fred. Zum fünften Mal ohne ihren Mann Gottlieb. Und noch immer wusste sie nicht, wohin Gottlieb verschwunden war, als er vor fünf Jahren an einem nebligen Novemberabend nur kurz um die Ecke gehen wollte, um die Zeitung zu kaufen.

Vor einer halben Stunde hatte es zu schneien begonnen und ihr Garten war bereits mit einer dünnen, weißen Decke überzogen. Franziska seufzte.  Manchmal legte sich die Einsamkeit so völlig über sie, wie die Schneedecke über ihren Garten und nahm ihr förmlich die Luft zum Atmen. Sie hatte keine Freunde und auch keine Familie. Abgesehen von ihrem Bruder Kuno. Aber den konnte sie leider nicht ausstehen.  Sie sprachen seit Jahren nicht mehr miteinander.

Doch in letzter Zeit musste sie öfter an ihn denken. Stundenlang saß sie in ihrem Schaukelstuhl, schaukelte vor sich hin, und dachte über die Vergangenheit nach. Sie war bereits zwölf Jahre alt gewesen, als Kuno geboren worden war. Sie hatte dieses Baby über alles geliebt. Sie hatte es gehegt und gepflegt, und als der kleine Bruder gelernt hatte, zu laufen, hatte sie ihn ständig mit sich herumgeschleppt und allen ihren Schulkameradinnen präsentiert. Sie war so unglaublich stolz auf diesen kleinen, blonden Jungen gewesen, der alle mit seinem Charme bezaubert hatte. Doch dann war Kuno an Kinderlähmung erkrankt. Und plötzlich war es, als gäbe es Franziska nicht mehr. Alle Aufmerksamkeit hatte sich dem kleinen Bruder zugewandt. Lange Zeit hatte er im Krankenhaus um sein Leben gekämpft. Und jahrelang hatte seine schwere Erkrankung ihm die nahezu ungeteilte Zuwendung der Eltern gesichert und Franziska in den Schatten gedrängt. Was für sie geblieben war, war die Mutter gewesen, die zehnmal am Tag rief: „Franziska, kannst du mir bitte helfen?“ und dafür einmal wöchentlich seufzend sagte: „Wenn ich dich nicht hätte...!“ Und dann ihr Vater, der ihr öfter über die Schulter oder den Kopf gestrichen und dazu gemurmelt hatte: „Ja, ja, meine Liebe.“ Und wenn sie es recht bedachte, bekam niemand mehr von ihm. Weder die Mutter noch der Bruder. Wenn er besonders gute Laune hatte, wurde ein schwungvolles Schulterklopfen daraus und dazu sagte er aus tiefster Überzeugung: „Vortrefflich, vortrefflich!“, wobei keiner genau wusste, was er damit meinte. Dennoch sah sie sich langsam und unaufhaltsam hinter der Pflegebedürftigkeit des kleinen Bruders verschwinden. Franziska war eifersüchtig.

Kuno wurde wieder gesund. Er lernte auch, wieder zu laufen, jedoch blieb in seinem linken Bein eine Schwäche zurück, die ihm für den Rest seines  Lebens einen hinkenden Gang bescherte. In die Familie kehrte wieder Normalität ein. Dennoch blieb Kuno der verwöhnte Liebling, und niemand bemerkte, wie Franziska, die sich so sehr nach der Liebe der Eltern sehnte, auf die sie so lange hatte verzichten müssen, immer mehr und mehr in sich zurückzog.

Als Franziska 22 Jahre alt war, starben die Eltern im Abstand von wenigen Monaten und Franziska war plötzlich für ihren kleinen Bruder verantwortlich.  So versuchte sie eben, Kuno so gut wie möglich die Eltern zu ersetzen und ihn zu einem anständigen Menschen zu erziehen.

Anfangs war das noch einfach gewesen. Kuno war ein fröhliches Kind, und seine liebenswerte herzliche Wesensart machte es ihm leicht, Sympathien zu gewinnen. Franziska wäre gerne gewesen wie er – so unbesorgt und unbekümmert, so fröhlich und egoistisch. Doch die Verantwortung, für die sie eigentlich viel zu jung war, drückte schwer auf ihre Schultern, und die Fröhlichkeit war ihr schon vor langer Zeit abhanden gekommen. Gerne hätte sie auch Freunde gehabt. Aber wie man Freundschaften schloss, hatte sie schon als Kind nicht so recht gewusst.

Kuno entwickelte sich zu einem verwöhnten und kapriziösen jungen Mann, der jegliches Spießertum verachtete. Franziska und die Welt, in der sie lebte, betrachtete er mit nachsichtiger, milder Geringschätzung. Er ließ sein Haar wachsen, und trug gerne bunte, auffallende Kleidung. Und obwohl Franziska gerne gesehen hätte, dass er einen soliden Beruf – wie Koch oder Bankbeamter ergriffen hätte, entschied er sich für eine Lehre als Reisebürokaufmann. Er sprach von fremden Ländern, von denen Franziska noch nicht einmal gehört hatte, und davon, dass er die Welt bereisen wollte. Er las viele kluge Bücher und benützte im Gespräch Wörter, die Franziska nicht verstand. Auch brachte er immer wieder Themen zur Sprache, von denen sie keine Ahnung hatte. Sie hatte niemals Zeit gehabt, sich mit Bildung zu beschäftigen. Franziska begann sich in seiner Gegenwart dumm, unzureichend und hilflos zu fühlen. Kunos überlegenes und immer etwas mitleidiges Lächeln konnte sie nicht mehr ertragen.

Letztendlich wurde Kuno erwachsen, jedoch verstehen konnten sie einander immer noch nicht. Kuno begann nun tatsächlich, als Reiseleiter die Welt zu bereisen. Sie sahen einander nur noch selten. Von irgendeiner seiner Reisen hatte er Fred mitgebracht. Da er jedoch selten zu Hause war, konnte er ihn nicht behalten und seither wohnte Fred bei ihr. Dafür würde sie ihm ewig dankbar sein, denn sie liebte diesen verrückten, lauten Papagei. Aber dass er allem, was sie ihm bieten konnte, den Rücken gekehrt hatte, um eine Welt zu bereisen, von der man nicht viel mehr wusste, als dass sie rund war, konnte sie ihm nicht verzeihen. Und irgendwann brach der Kontakt ab.

Sie war fast 45 Jahre alt gewesen, als sie Gottlieb kennengelernt und geheiratet hatte. Warum, das wusste sie nicht genau. Vermutlich einfach deshalb, weil er sie gefragt hatte, und ihr das Leben nicht viele Alternativen bot. Es war nicht die große, überschäumende Liebe gewesen, jedoch hatte sich mit der Zeit ein solides Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt. Auch ihre Eltern wären mit Gottlieb zufrieden gewesen, hätten sie noch gelebt. Ihr Vater einfach deshalb, weil Gottlieb Schach spielen konnte. Franziska sah es förmlich vor sich, wie ihr Vater Gottlieb mit einer Hand auf die Schulter klopfte und „vortrefflich, vortrefflich“ murmelte, während er mit der anderen Hand die Schachfiguren aufstellte. Und ihre Mutter hätte Gottlieb gemocht, weil er nicht nur ein erstklassiger Buchhalter war, sondern im Notfall auch betonieren konnte. Ihre Mutter pflegte zu sagen: „Und wenn einer noch so ein Lump ist, so lange er betonieren kann, ist nicht alles verloren.“  Nicht dass jemals jemand Gottlieb hätte betonieren sehen. Die Notwendigkeit dazu bestand auch nie. Aber das Bewusstsein, dass er es im Ernstfall konnte, vermittelte schon ein Gefühl der Sicherheit.

Bis Gottlieb in dieser Novembernacht vor fünf Jahren verschwunden war. Franziska war am Boden zerstört. Alles, alles hätte sie ihm verziehen, wäre er nur zurückgekommen. Keine Fragen hätte sie ihm gestellt, ihm keine Vorwürfe gemacht. Doch ihre anfängliche Sorge, ihre Verletztheit und ihr Schmerz hatten sich im Laufe der Zeit erst in hoffnungslose Trauer und danach in Groll und Unversöhnlichkeit verwandelt. Ihretwegen hätte er obdachlos im Park sitzen und erfrieren können. Sie war fertig mit ihm.

Kuno hingegen hatte nie geheiratet. Er war ein etwas sonderbarer Einzelgänger geworden und lebte in einem kleinen Haus am Stadtrand, nur zehn Minuten von Franziskas Elternhaus – in dem sie immer noch lebte - entfernt. Ganz konnte sie nicht verstehen, was aus ihrem schillernden, glänzenden Bruder geworden war. Und vor allem warum. Es mochte wohl sein, dass es einfach zu wenige Menschen gab, die seinen Ansprüchen genügten. Nicht jeder konnte Shakespeare zitieren und verstand Wörter, an denen selbst die Gelehrten im alten Rom noch zu knabbern gehabt hätten. Einen anderen Grund konnte sie sich nicht vorstellen.

Manchmal sah sie ihn aus der Ferne, wenn er, den Blick auf den Boden gerichtet und die Hände auf dem Rücken verschränkt, seinen täglichen Spaziergang absolvierte, seine seltsame bunte Strickmütze über die Ohren gezogen. Sie drehte jedes Mal den Kopf weg.

Doch in letzter Zeit schlich Kuno sich immer öfter in Franziskas Gedanken. Immer öfter dachte sie an den heiteren Jungen, der ihr kleiner Bruder gewesen war, und den sie so geliebt hatte.  Und an den einsamen Erwachsenen, der er geworden war. Aber den Mut, ihn einmal anzusprechen, wenn sie ihn sah, hatte sie nicht.

Auch an Gottlieb musste sie seit einigen Wochen häufig denken. Jahrelang hatte sie sich die Gedanken an ihn nicht erlaubt, sie im Keim erstickt. Doch immer weniger konnte sie die Erinnerung an ihn verdrängen, ihn immer weniger aus ihrem Kopf verbannen.

Das Schrillen der Türklingel riss sie unvermutet aus ihren Gedanken. Fred, der seinen Kopf unter den Flügel gesteckt hatte und vor sich hin gedöst hatte, schrak auf und grölte. „Frrrreudensprrrung!!“  „Das war nicht das Telefon, Blödmann. Das war die Türklingel“, brummte Franziska und schlurfte zur Tür. Umständlich legte sie die Sicherheitskette vor und drehte sie den Schlüssel im Schloss. Dann öffnete sie die Tür und spähte durch den Spalt nach draußen.  Draußen war es dunkel, sie konnte niemanden erkennen. „Ist da jemand?“, frage sie ärgerlich. Alles blieb still. Sie lauschte kurz in die Dunkelheit. Kein Ton war zu hören. Kopfschüttelnd wollte sie die Tür wieder schließen, da sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste.  Sie blieb stehen und linste durch den Türspalt nach draußen. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und sie konnte einen sonderbar gekleideten Jungen erkennen, der da stand und sie unverwandt ansah. Unter einer sonderbaren Zipfelmütze lugten schwarze, struppige Haare und spitze Ohren hervor. Er trug eine bunte Jacke und ebensolche Hosen. „Um alles in der Welt, wer bist du?“ flüsterte sie. Der Junge lachte hell.  „Was bedeutet das schon? Ich bin einfach der, der ich bin. Vielleicht ein Zauberer, vielleicht ein Weihnachtself, vielleicht der Osterhase. Vielleicht bin ich aber auch nur der, der kommt, wenn die Einsamkeit unerträglich wird. Aber was bedeutet es?“

Franziska runzelte verwirrt die Stirn. „Ich glaube, du bist hier falsch. Du hast dich sicher im Haus geirrt. Es ist besser, wenn du so schnell wie möglich wieder verschwindest.“ „Ob es besser ist, kannst du nicht wissen. Du kannst nur wissen, was du im Augenblick möchtest, aber nicht, was besser ist.“

Darauf fiel Franziska so schnell keine passende Antwort ein. Aber sie hatte auch keine Lust, mit diesem seltsamen Jungen vor ihrer Tür zu diskutieren. „Sieh zu, dass du wegkommst….“, wollte sie sagen, jedoch dazu kam sie nicht. Denn in diesem Augenblick grölte Fred aus der Küche: „Verschwindet hier, ihr Lumpenpack! Wir kaufen nichts!“  Der Junge lachte wieder.  „Dein Papagei weiß Bescheid. Aber sorge dich nicht, du brauchst nichts zu kaufen, Franziska. Ich bin da, um dir fröhliche Weihnachten zu wünschen!“ „Fröhliche Weihnachten!“, fauchte Franziska. „Fröhliche Weihnachten!! Danke für den frommen Wunsch. Aber wie soll denn jemand wie ich fröhliche Weihnachten haben? Seit Jahren bin ich allein. Kein Mensch kümmert sich um mich. Kein Mensch denkt auch nur an mich. Nein, das mit den fröhlichen Weihnachten, das wird wohl nichts!“ Herausfordernd starrte sie den Jungen an. Doch der sagte nichts. Betrachtete sie nur neugierig. Auch sie schwieg. Sie wollte dem Jungen die Tür vor der kecken Nase zuwerfen, aber es funktionierte nicht. Sie stand wie erstarrt. Kuno tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Ihr Bruder, der – egal was passierte – immer ihr Bruder bleiben würde. Er war so anders als sie. Sie konnte ihn nicht verstehen. Als hätte der Junge ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Aber er ist doch nicht weniger wert, nur weil du ihn nicht verstehst. Vielleicht musst du ihn gar nicht verstehen. Vielleicht genügt es, ihn zu lieben.“

Und dann Gottlieb. Er hatte sie verlassen, obwohl sie alles für ihn getan hatte. Sie hatte sich so bemüht, ihm eine gewissenhafte Ehefrau zu sein. Da brach es plötzlich aus ihr heraus. „Immer hab ich alles für jeden getan. Ich habe Kuno großgezogen. Habe versucht einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. Ich habe ihm gegeben, was ich konnte. Aber es hat nicht gereicht. Und dann Gottlieb. War ich nicht immer ordentlich und anständig? Die Wohnung war immer aufgeräumt, und er bekam täglich sein warmes Essen, wenn er nach Hause kam. Er hatte immer frisch gewaschene und gebügelte Kleidung. Und mindestens fünfmal täglich habe ich ihm seine Brille geputzt. Aber es war ihm nicht genug. Was hätte ich denn sonst noch tun sollen?“ Sie begann hemmungslos zu schluchzen. All ihre jahrelang aufgestaute Frustration, ihre Enttäuschung und ihr Schmerz stürzten wie ein gewaltiger Wasserfall, der alles mitriss, aus ihr heraus. „Vielleicht habe ich Fehler gemacht. Vielleicht habe ich alles falsch gemacht.  Aber ich tat alles, was ich konnte.“ Das Schluchzen schüttelte sie, sodass sie kaum noch sprechen konnte. Leise hörte sie die Stimme des Jungen. „Wenn wir von Fehlern reden wollen, dann hast ganz gewiss nicht nur du welche gemacht. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, einfach jetzt Entscheidungen zu treffen, die dich glücklich machen.“  „Wie soll ich denn das machen?“ schluchzte Franziska. „Indem du auf dein Herz hörst!“, sagte der Junge. „Auf mein Herz“, schluchzte Franziska, „wie soll denn das gehen?“ Aber sie sprach zu ihrem leeren Garten. Der Junge war weg.

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Vier Tage vor Weihnachten! Gottlieb saß in seinem kleinen Untermietzimmer und rieb seine kalten Hände aneinander, um sie zu wärmen. Die fünften Weihnachten ohne Franziska. Wenn er hätte sagen müssen, warum er an diesem denkwürdigen Tag, als er gegangen war, um die Zeitung zu kaufen, nicht mehr nach Hause zurückgekehrt war – er hätte es nicht gewusst. Zu eng war ihm alles geworden. Zu akkurat. Als er Franziska geheiratet hatte, hatte er das – zumindest zum Teil – deshalb getan, weil er sich nach einem  behaglichen, wohlgeordneten Heim gesehnt hatte. Und natürlich auch, weil er Franziska wirklich gern mochte.

Sie hatte in der Bäckerei gearbeitet, in der er sich täglich seine Frühstückssemmeln kaufte.  Sie hatte auf ihn immer ein wenig schüchtern und zurückhaltend gewirkt, aber überaus tüchtig und umsichtig.

Franziska hatte sich vom ersten Tag ihrer Ehe an Mühe gegeben, alles sauber zu halten und ihn zu versorgen und zu bemuttern. Oh, man konnte ihr nichts vorwerfen. Sie war eine vorbildliche und ordentliche Hausfrau gewesen. Aber hatte sie jemals bemerkt, dass es ihm nicht so wichtig war, ob die Betten jeden Samstag neu bezogen wurden und jedes Staubkörnchen entfernt wurde, ehe es auch nur Zeit fand, sich auf irgendeinem Möbelstück häuslich niederzulassen?

Hatte sie jemals bemerkt, dass er manchmal einfach gerne mit ihr dagesessen und geredet hätte, dass er manchmal gerne etwas mit ihr unternommen hätte? Dafür war nie Zeit gewesen. Sie hatte das Haus geputzt, sie hatte seine Brillen geputzt, und das bis zu fünfzehn mal täglich. Und wenn sie nicht geputzt hatte, hatte sie Deckchen gehäkelt und das gesamte Haus damit dekoriert. Sogar den Klo-Deckel hatte sie mit einem schicken Mäntelchen versehen. Damit und mit ihrer Fürsorge und ständigen Betriebsamkeit hatte sie ihn manchmal halb in den Wahnsinn getrieben.

Er seufzte. Dennoch hatte er sie gern gehabt, seine Franziska. Er hatte sie immer noch gern. „Dann wird es Zeit, dass du eine Entscheidung triffst, die dich glücklich macht!“ Gottlieb erschrak fürchterlich. Vor ihm stand wie aus dem Boden gewachsen eine höchst sonderbare Gestalt. Irgendwie sah das Wesen aus wie ein kleiner Junge, seine Kleidung war jedoch keine normale Jungenkleidung, und seine Ohren waren spitz. „Wer bist du?“, flüsterte Gottlieb. Und wie bist du hier hereingekommen?“  Der Junge ging nicht auf seine Frage ein. „Hast du ihr jemals gesagt, was dir wichtig ist?“ fragte er stattdessen. „Und hast du auch wirklich einmal darauf geachtet, was ihr wichtig ist?“

Gottlieb schloss verwirrt die Augen. Träumte er? Was war hier los? Er öffnete den Mund zu einer Antwort… zu einer Frage… doch er brachte keinen Ton hervor. Und als er es endlich wagte, seine Augen wieder zu öffnen, war der Junge weg. Jedoch schien ihm, als hörte er aus der Ferne eine Stimme flüstern. „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht.“

Eine Entscheidung, die mich glücklich macht, dachte Gottlieb verwirrt. Dafür war es wohl zu spät. Er würde es nie wieder wagen, nach Hause zurückzukehren. Franziska würde ihn ja auch gar nicht zurücknehmen wollen, da war er sich sicher. Dafür hatte er ihr zu viel angetan. Aber wenigstens anrufen könnte er sie. Nur um ihr frohe Weihnachten zu wünschen und ihr zu sagen, wie leid ihm alles täte. Er wusste jedoch nicht, ob er den Mut dazu haben würde. „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht!“, hörte er da ganz leise die Stimme des Jungen aus der Ferne. Oder hatte er sich das nur eingebildet?

Egal wie. Er würde tun, was zu tun war. Langsam und bedächtig griff er nach dem Telefonhörer. 

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Vier Tage vor Weihnachten. Es hatte zu schneien begonnen, und Kuno beschloss, seinen täglichen Spaziergang durch den Park heute bis zum Wäldchen auf der anderen Flussseite auszudehnen. Die Hände auf dem Rücken, sein linkes Bein hinter sich her schleifend, ging er die verschneiten Parkwege entlang. Sein hinkender Gang störte ihn schon längst nicht mehr. Früher, ja da war das schlimm gewesen. Wenn seine Schulkameraden durch die Straßen rannten, wenn sie zum Fußballspielen gingen, zum Schifahren und Rollschuhlaufen, und er nirgends mithalten konnte, da fraß ihn manchmal die Verzweiflung über seine Behinderung fast auf. Als er älter wurde, und Mädchen in seinem Leben eine Rolle zu spielen begannen, da merkte er, dass leider nicht nur die inneren Werte zählten, wie seine Schwester ihn immer zu trösten versuchte. Nach zwei herben Enttäuschungen, entschied er, allein zu bleiben. Er verkroch sich hinter seinen Büchern, fraß Bildung in sich hinein und bemerkte bald, dass seine Schwester mit ihm nicht mehr mithalten konnte.   Sie war zwar gutmütig und tüchtig, häkelte endlos viele Deckchen und verfolgte ihn ständig mit einer Kleiderbürste, um nicht vorhandene Fusseln von seiner Kleidung zu bürsten,  aber für seine Begriffe war sie doch sehr einfach konstruiert

Ihr war es immer nur wichtig gewesen, das Haus in Ordnung zu halten und ihn zu versorgen. Für mehr interessierte sie sich nicht. Wenn er mit ihr philosophische oder politische Gespräche führen wollte, hatte sie sich stets hinter Hausarbeit versteckt oder blitzartig ihr stets griffbereites Häkelzeug an sich gerissen und wie von Furien gehetzt losgehäkelt.

Dennoch war sie war von ihnen beiden immer die Starke, Überlegene gewesen. Allein schon deshalb, weil sie die Ältere war.

Nun war er wenigstens der Kluge und Gebildete. Er mochte Franziska, aber er konnte nie verstehen, wie ihr das Leben, das sie gewählt hatte, genügen konnte. Sie hatte nie nach Höherem gestrebt. Ihm wurde das Dasein, das sie führten, bald zu eng und zu kleinkariert. Er wollte weg, wollte die Welt sehen, wollte Erfahrungen sammeln. Er wollte der Welt zeigen, dass er auch mit seiner Behinderung ein ernstzunehmender Mensch war. Franziska hatte ihn nur verständnislos angesehen, als er versucht hatte, ihr das zu erklären. „Du hast doch alles, was du brauchst!“, hatte sie gesagt und den Kopf geschüttelt. Damit war das Thema für erledigt gewesen und sie war wieder zur Tagesordnung übergegangen.

Er hatte in seinem Leben viele fremde Länder bereist, er hatte viel gesehen und viel gelernt. Und nun – im Alter von nahezu 55 Jahren, begann er sich erstmals zu fragen, ob er denn gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. „Dazu müsstest du dir erst einmal klarmachen, wonach du gesucht hast!“, hörte er plötzlich eine Stimme neben sich sagen. Er zuckte zusammen und blickte zur Seite. Er hatte diesen sonderbaren Jungen, der da plötzlich neben ihm ging, nicht kommen gehört. „Wer bist du?“ knurrte er, „und woher kommst du so plötzlich?“

Der Junge lachte. „Das fragen mich alle! Wenn du unbedingt einen Namen für mich brauchst, dann nenn mich einfach Marakantandel. Oder von mir aus auch – falls dir Marakantandel zu lang ist – Kurt. Es ist egal.“

Kuno runzelte die Stirn und sah den Jungen genauer an. Das Gesicht sah aus wie ein ganz normales Jungengesicht, aber der Junge wirkte wie verkleidet mit seiner komischen Mütze und der bunten Kleidung. Und er hatte auffallend spitze Ohren.  So etwas wie diesen Jungen konnte es eigentlich gar nicht geben. Vermutlich lag diese ganze Erscheinung daran, dass er sich heute ein zweites Glas Glühwein genehmigt hatte. Ja genau, das musste es sein.

Der Junge lachte hell und fröhlich. „Ja genau, so wird es sein. Und hättest du noch ein drittes Glas Glühwein getrunken, würdest du mich sogar doppelt sehen.“ Der Junge schüttelte sich vor Lachen.

Kuno wurde ärgerlich „Geh nach Hause und zieh dir anständige Kleidung an“, fuhr er denn Jungen an. „Und mach um alles in der Welt was mit deinen Ohren. Das sieht ja lächerlich aus.“

Der Junge ignorierte seine Aufforderung. „Weißt du, wonach du dein ganzes Leben lang gesucht hast?“ fragte er stattdessen. „Wenn nicht, dann denk drüber nach. Vielleicht begreifst du dann auch, dass du nicht um die halbe Welt hättest reisen müssen, um es zu finden.“

„Lass mich in Ruhe“, brummte Kuno, „es ist ohnedies zu spät, etwas zu ändern.“

„Du brauchst ja auch nicht die Vergangenheit zu ändern. Du brauchst ja nur JETZT eine Entscheidung treffen, die dich glücklich macht. Verstehst du? JETZT!“

Plötzlich wusste Kuno, was er sein Leben lang gesucht hatte. Wie eine Erleuchtung kam es über ihn.

„Ein bisschen Frieden im Herzen hätte ich gebraucht“, flüsterte er. „Mit mir selbst hätte ich Frieden schließen müssen. Franziska konnte nichts dafür. Sie konnte nichts für meine Krankheit. Sie konnte nichts für meine Behinderung. Sie tat, was sie konnte.“

„So ist es“, sagte der Junge. „Du bist, wer du bist. Nichts kann daran etwas ändern. Auch deine Behinderung ändert nicht, wer du bist. Dein Leben lang damit zu hadern ist deine eigene Entscheidung. Du musst dich nicht beweisen, da du ja sowieso bist, der du bist. Du musst das nur begreifen, dann hast du, was du dein Leben lang gesucht hast.“

„Den Frieden im Herzen“, murmelte Kuno.

Und völlig unvermutet spürte er ihn plötzlich ganz tief in sich drin, diesen Frieden.

„Triff ab jetzt nur mehr Entscheidungen, die dich glücklich machen“, sagte der Junge.

„Das werde ich tun“, flüsterte Kuno, „das werde ich ganz gewiss tun.“  Jedoch da war keiner mehr, dem er das hätte sagen können.

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Lange Zeit saß Franziska nur still da. Sie fühle sich seltsam leicht und friedlich. Hatte sie das alles nur geträumt? „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht!“ hörte sie die Stimme des Jungen immer noch in ihrem Ohr. Dieser einfache Satz hatte bewirkt, dass in ihr Zuversicht entstanden war. Alles könnte gut werden. Ihre eigenen Entscheidungen hatten damit zu tun.

Sie schrak zusammen als plötzlich das Telefon klingelte. „Frrrreudensprrrrung! Wir kaufen nichts!“ grölte Fred durchs Haus.  Mühsam erhob sie sich und schlurfte ins Wohnzimmer. „Freudensprung“, meldete sich, und sie merkte, dass ihre Stimme anders klang als sonst. Irgendwie heller, fröhlicher. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Sie hörte nur leises Atmen. „Hallo? Ist da jemand?“ fragte sie nochmal. „Franziska!“ hörte sie eine wohlvertraute Stimme an ihr Ohr klingen. Gottlieb! Gottlieb hatte angerufen. Sie hielt die Luft an. „Franziska, ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst.“ Gottliebs sprach leise und seine Stimme klang heiser. „Aber ich möchte, dass du weißt, wie unendlich leid mir alles tut.“ Sie schwieg nur eine Sekunde lang. Dann sagte sie mit sanfter Stimme. „Komm nach Hause, Gottlieb. Komm einfach nach Hause!“

Franziska saß immer noch fassungslos neben dem Telefon, nachdem sie schon längst aufgelegt hatte. Gottlieb würde nach Hause kommen. Sie bemerkte zum ersten Mal, wie sehr er ihr gefehlt hatte, wie sehr sie ihn liebte.

Wenn doch nur auch Kuno kommen würde. Wie sehr wünschte sie sich das. Aber der war vermutlich zu stolz und zu starrköpfig. Da fielen ihr die Worte des Jungen wieder ein. „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht.“ Das war es. Sie musste nicht warten, bis Kuno eine Entscheidung traf. Sie konnte selbst handeln.

Rasch eilte sie in ihre Garderobe, zog Schuhe und Mantel an und verließ entschlossen ihr Haus. Sie würde zu Kuno gehen und ihn für den Weihnachtsabend einladen.

Es schneite immer noch und sie zog den Kopf ein, als sie raschen Schrittes ihren Garten durchquerte. So sah sie auch nicht die dunkle Gestalt, die gerade ihren Garten betrat. Geradewegs rannte sie in sie hinein. Erschrocken hob sie den Kopf und traute ihren Augen nicht. Kuno! Kuno war zu ihr gekommen. „Guten Abend, Franziska. Wohin so stürmisch?“ fragte er mit seiner tiefen, warmen Stimme. „Ich wollte gerade zu dir!“ stammelte sie verwirrt. „Ich wollte dich für Weihnachten einladen.“ „Das trifft sich, denn ich hatte ähnliches im Sinn!“ Kuno lächelte. Er lächelte glücklich wie nie zuvor. Keine Herablassung, keine Geringschätzung lag in seinem Lächeln. Warm und herzlich lächelte er.

So kam es, dass am Weihnachtsabend drei glückliche Menschen und ein gesprächiger Papagei  in Franziskas Wohnzimmer saßen. Vor einem Weihnachtsbaum, den sie im letzten Augenblick noch gekauft und geschmückt hatten.

Und alle drei dachten voller Dankbarkeit an den Jungen, von dem sie sich nicht sicher waren, ob sie ihn nicht nur geträumt hatten und von dem sie den anderen nie erzählen würden.