Die heilige Dunkelheit
Ein erheblicher Teil der spirituellen Szene scheint der Meinung zu sein, dass das Licht das Gute verkörpere und die Dunkelheit das Böse.
Aber ist das tatsächlich so?
Verfällt die spirituelle Szene da nicht ein wenig der Einseitigkeit? Einer Lichtbesessenheit, die die Dunkelheit verkennt, ja geradezu ablehnt, obwohl sie ebenso heilig ist?
Während das Licht von vielen Spirituellen, oder auch von den sogenannten Lichtarbeitern, unreflektiert durch die Gegend gepulvert wird
(„Es geht dir nicht gut? Ich schicke dir Licht und Liebe.“
„Du hast morgen eine schwierige Prüfung? Ich schicke dir Licht und Liebe.“
„Du bist traurig? Ich schicke dir Licht und Liebe.“
„Du bist verzweifelt? Ich schicke dir Licht und Liebe.“),
bleibt die Dunkelheit – die oft vermutlich wesentlich heilsamer wäre – auf der Strecke.
Nicht alles kann im grellen Tageslicht heilen. Nicht alles bedarf der erbarmungslosen Beleuchtung, um Trost zu finden.
Wie wäre es zur Abwechslung mit dem Satz:
„Ich schicke dir warme, tröstende Dunkelheit –
in der du dich geborgen fühlen kannst,
in der du ungesehen weinen darfst,
in der deine Seele heilen kann.“
Wir geben uns jede Nacht der Dunkelheit hin.
Wir träumen im Dunkeln. Wir heilen im Dunkeln.
Unsere Zellen regenerieren sich im Schlaf – nicht im hellen Tageslicht.
Der Same keimt im Dunkel der Erde, nicht im Licht.
Die größten inneren Wandlungen geschehen nicht im Scheinwerferlicht, sondern im stillen Raum der Innenschau – im Schatten.
Das Problem vieler Licht-und-Liebe-Strömungen ist, dass sie versuchen, Schmerz, Wut, Trauer, Verzweiflung wegzuleuchten, anstatt diesen Gefühlen den heiligen Raum zu geben, den sie verdienen.
Licht allein kann hart, grell, entblößend wirken – wie eine Neonlampe in einem sterilen Raum.
Doch was heilt, ist oft Geborgenheit.
Und die wohnt in der Dunkelheit.
Die Dunkelheit birgt Geheimnis, Tiefe, Schutz.
Sie verlangt nichts.
Sie ist nicht fordernd.
Sie erwartet keine Leistung von dir.
Sie umhüllt dich, wenn du hilflos bist vor Schmerz.
Sie urteilt nicht.
Manchmal wäre es heilender, einem leidenden Menschen nicht Licht zu schicken – sondern Dunkelheit in ihrer heiligen Form:
Eine dunkle Höhle des Vertrauens, in der Tränen fließen dürfen.
Eine schützende Nacht, in der man nicht funktionieren muss.
Eine schwarze Decke, die einfach nur sagt: „Du darfst. Alles darf sein.“
Wahre Ganzheit entsteht nicht durch Licht allein – sondern durch die stille Umarmung beider Kräfte.
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