Heute teile ich mit euch eine wundervolle Geschichte von Peter Hacks.
Meta Morfoss
Meta Morfoss war ein
kleines Mädchen, welches die Angewohnheit hatte, sich dauernd zu
verwandeln. Manchmal verwandelte sie sich in eine Muschel und lag ganz
still im Algenwald und träumte im warmen Unterwasser vor sich hin. Wenn dann
die Jungens im Teich tauchten und versuchten, die Muschel an die Oberfläche zu
holen, klappte sie ihre Schalen zusammen und sagte ein bisschen furchtsam:
»Aber ich bin doch die Meta.«
Oder sie verwandelte
sich in einen Engel und flog mit langsamen Flügelschlägen durch den Abend. Dann
konnte es vorkommen, dass sie einem Flugzeug begegnete und der Kapitän sehr
erstaunt zu sich sagte: »Merkwürdig, hier fliegt ein Engel.« Und er starrte so
angestrengt zum Fenster hinaus, dass das Flugzeug zu schwanken anfing. Und
Meta rief ihm tröstend hinterher: »Aber ich bin doch die Meta!«
Oder sie verwandelte
sich in eine Dampflokomotive und wog 100 Tonnen und raste mit ungeheurem Getöse
die Schienen entlang. Es ist doch aber so, dass die Eisenbahnschienen für
die ordentlichen Züge bestimmt sind, die mit Gütern oder Reisenden unterwegs
sind und die Eisenbahnverwaltung hat schließlich einen genauen Fahrplan
ausgerechnet, damit die Züge niemals zusammenstoßen. Die Zugführer erschraken
daher nicht wenig, wenn sie auf dem eigenen Geleise eine Lokomotive auf sich zudampfen
sahen, die nicht im Fahrplan stand und auch vom Bahnwärter nicht gemeldet war.
Natürlich verwandelte sich Meta immer rechtzeitig in das kleine Mädchen zurück,
das sie wirklich war, und sie sprang vom Bahndamm und erläuterte mit einem
allerhöflichsten Knicks: »Aber ich bin doch die Meta!«
Aber was nützte das
denn noch? Wenn es auch mit knapper Not kein Unglück gab, die Zugführer hatten
doch einen bösen Schreck bekommen. Man muss also ehrlich zugeben, dass Meta
Morfoss den Menschen eine Menge Schwierigkeiten bereitete. Sie meinte es gewiss
nicht böse. Nur verwandeln sich eben die meisten Leute sehr selten in eine
andere Sache, und, wer das schon unbedingt tun muss, sollte doch gelegentlich
darüber nachdenken, ob er nicht stört.
Meta lebte zusammen mit
ihren Eltern und einer Tante, die einen Schnurrbart hatte und deswegen Herr
Maffrodit hieß, in einem kleinen Haus am Rande des Stadtparks.
Metas Eltern hatten
sich an die seltsame Eigenschaft ihrer Tochter schon einigermaßen gewöhnt -
seit jenem ersten Mal, wo sie, anstatt eines Säuglings, eine Wärmflasche im
Kinderbettchen gefunden hatten, die mit einer glucksenden Gummistimme erklärt
hatte: »Binna Meta« (Denn, wie gesagt, Meta war da noch sehr klein gewesen und
konnte sich nicht richtiger ausdrücken.) So wunderten sich die Eltern über gar
nichts mehr. Ob nun mitten im Wohnzimmer ein Platzregen niederging, oder ob am
Tischbein eine Orchidee wuchs, die, in fremdartigen Farben schillernd, ab und
zu eine Fliege verspeiste, oder ob auf Herrn Maffrodits Nähtisch eine wollene
Socke lag, die vier Meter lang war und nicht einmal mehr einer Giraffe gepasst
hätte: Frau und Herr Morfoss wussten längst, dass das die Meta war, und
achteten überhaupt nicht darauf.
Übrigens kann es auch
ein Fehler sein, wenn man alles schon vorher weiß und auf nichts mehr achtet.
Eines Abends zum Beispiel
ereignete sich eine ganz ungewöhnliche Geschichte.
Es gab nämlich in der
Stadt einen besonders schlecht erzogenen jungen Mann, der sich
abscheulicherweise in mondlosen Nächten ein schwarzes Halstuch vors Gesicht
band, sich einen Revolver (mit dem er zum Glück nicht schießen konnte) in die
Tasche steckte und in allein stehende Häuser einbrach, um dort Matchbox-Autos
und Brillantringe zu rauben. An dem Abend, von dem wir reden, hatte er beschlossen,
bei der Familie Morfoss einzubrechen.
Herr Morfoss saß eben
vor dem Fernseher, Frau Morfoss las in der Zeitung, und Herr Maffrodit, die
Tante, strickte eine Socke, die genauso lang war, wie es sich für eine Socke
gehört.
Da kam der Einbrecher durchs
Fenster gestiegen und sagte: »Das ist ein Überfall. Keiner bewegt sich!« Die
Familie glaubte natürlich, dass der Einbrecher Meta sei. Wo gibt es denn so
etwas noch, Einbrecher! Herr Morfoss ging in aller Seelenruhe zum Fernsehgerät
und stellte eine andere Sendung ein, die leider ebenso langweilig war wie die
bisherige; Frau Morfoss hob die Augen gar nicht von ihrer Zeitung, und Herr
Maffrodit klapperte weiter mit ihren Nadeln.
Der Einbrecher
fuchtelte mit dem Revolver und brüllte: »Hände hoch, sonst wird geschossen!«
Niemand kümmerte sich um ihn. Der Einbrecher wurde fast närrisch vor Zorn. Er
drückte den Revolver Herrn Morfoss in den Bauch und flüsterte heiser: »Das Geld
oder das Leben!«
»Schon gut «, sagte
Herr Morfoss geduldig. »du bist ja die Meta.«
Da erkannte der
Einbrecher, dass sich niemand vor ihm fürchten wollte. Er ging verwirrt weg.
Und er zweifelte an seiner Eignung für diesen Beruf und hängte ihn an den
Nagel, und er ist dann, wie wir in Erfahrung gebracht haben, noch ein sehr
ordentlicher Autoschlosser geworden.
Zu Hause also ging es
Meta so gut oder so schlecht, wie es kleinen Mädchen zu Hause einmal
geht. Aber wie ging es in der Schule? Wir sehen gleich, dass das eine
wichtige Frage ist, und wir wollen sie beantworten, indem wir die Sache von
ihrem Anfang an erzählen.
Der Lehrer, er hieß
Herr Dr. Pauli, hatte Meta aufgefordert vorzutragen, was sie über den Himmel
wusste. Meta war - das kommt bei kleinen Mädchen gelegentlich vor - in einer
schauderhaften
Blödellaune. Sie stand auf und äußerte mit todernstem Gesicht den
folgenden Unsinn: »Der Himmel ist ein großer, runder, blauer Teller. Der Abend
ist eine Schokoladensoße, die, vom Rand her, auf den Teller gekippt wird. Wenn
der Teller voll ist, ist Nacht. Am Morgen kommt die Sonne und leckt die
Schokolade wieder ab; vermutlich ist sie eine Katze.«
»Was erzählst du uns
da!« sagte Herr Dr. Pauli.
»Doch«, sagte Meta,
»eigentlich bin ich ganz sicher, dass die Sonne eine Katze ist.«
»Sag einmal«, bemerkte
Herr Dr. Pauli trocken, »bist du nicht ein bisschen sehr albern?«
An dieser Stelle des
Gesprächs verwandelte sich Meta in den Professor Albert Einstein.
Der Professor
Einstein, das muss man hier wissen, lebte vor noch gar nicht so langer Zeit und
war ein gütiger alter Herr mit wehenden weißen Haaren. Zugleich war er von
allen Gelehrten vor oder nach ihm derjenige, der über Himmelsdinge am besten
Bescheid wusste.
Meta - oder Professur
Einstein, wie man will - erhob sich sehr würdig, schritt zur Tafel und schrieb
mit Kreide ein paar schwierige Ausdrücke darauf, die niemand verstehen konnte,
nicht einmal der Lehrer.
Hiernach räusperte sie
sich und sprach: »Meine hoch verehrten Damen und Herren! Alle Sterne drehen
sich um alle Sterne. Es gibt große und kleine Sterne, helle und dunkle,
wichtigere und weniger wichtige, aber es ist keiner unter ihnen, auf den es
nicht ankommt. Jeder Stern hat ein bisschen Recht. Und was wir Menschen von den
Sternen lernen können, ist, wie nett sie, obgleich jeder ein bisschen Recht
hat, sich am Ende miteinander geeinigt haben. Ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.«
Nachdem sie das gesagt
hatte, ergriff sie eine Geige und spielte eine wunderschöne Melodie.
»Sie sind nicht
Professor Einstein«. sprach Dr. Pauli, der Lehrer.
»Hoppla«, sagte Meta
verdutzt, »woher wissen Sie das?«
»Erstens«, entgegnete
Herr Dr. Pauli »ist Professor Einstein leider schon vor einer Weile verstorben,
und zweitens, was vielleicht noch bedeutsamer ist, hat er bekanntlich überaus
schlecht die Violine gespielt.«
»Nein, nein«, fügte er
hinzu, »wer so gut geigt, ist kein Einstein.«
»Stimmt«, gab Meta zu,
»was das Geigen anlangt, ist mir ein Schuss Oistrach dazwischengekommen.«
»Bleibt also zu klären«, sagte der Lehrer. »wer Sie sind?«
»Aber ich bin doch die
Metal« rief Meta. (Wir haben es schon erwähnt: sie meinte es wirklich nicht
böse.)
»Dann muss ich
allerdings diese Ablenkung vom Gegenstande des Unterrichts in mein Merkbüchlein
eintragen«, sagte Herr Dr. Pauli mit Nachdruck.
Er zog das
Merkbüchlein aus der Brusttasche. Meta aber, die ihr Betragen so sehr
tadelnswert nicht fand, wie sie es wahrscheinlich hätte finden sollen, ärgerte
sich darüber, und sie verwandelte sich ganz flink in Dr. Paulis
Füllfederhalter.
Sie hatte die Absicht,
beim Eintragen einen mächtigen Tintenfleck zu verspritzen. Aber wie erstaunt
war sie, als sie merkte, dass der Lehrer gar nichts in das Buch eintrug.
Er tat zwar so, als
schriebe er den Namen Meta Morfoss, in Wahrheit jedoch malte er die Buchstaben
in die Luft.
Da entdeckte Meta, wie
gut Herr Dr. Pauli es mit ihr meinte. Und seit sich dieser Vorfall so begeben
hatte, unterließ es Meta, sich während der Schulstunden in irgendetwas oder
irgendwen zu verwandeln, so hart es sie auch oft ankam.
Nun lässt sich ja
verstehen, dass Meta ihrer Angewohnheit am heftigsten nachgab, sobald die
Schule aus war. Sie hatte sich fünf oder sechs oder sogar sieben Stunden
lang solche Mühe gegeben, unverwandelt zu bleiben. Im Augenblick, wo sie
sich verwandeln durfte, tat sie es meistens sofort.
Und wenn es ihr
besonders schwer gefallen war, einfach bloß immer die Meta zu sein, verwandelte
sie sich gern in etwas Unangenehmes.
Zum Beispiel fiel ihr
- es muss Ende letzten Sommers gewesen sein - ein, sich in ein Krokodil zu
verwandeln, das auf der Straße sitzt und die Zähne fletscht. Sie sah wirklich
ziemlich fürchterlich aus; denn Krokodile haben sehr lange und gelbe
Zähne. Die Fußgänger drückten sich vorsichtig an den Hauswänden entlang,
und selbst die Autofahrer machten lieber einen Bogen um das Ungeheuer. Da kam
der Müllmann, Herr Karsunke, in seinem Straßenreinigungsfahrzeug des Weges
gefahren. Als er das Krokodil sitzen sah, sprach er die folgenden Worte zu sich
selber: »Hier stelle ich aber eine deutliche Verunreinigung der Fahrbahn fest.«
Und er schwenkte seinen Bagger aus und schaufelte das Krokodil kurzerhand in
den Behälter, dorthin, wo der übrige Müll stak.
Aber weil Meta sich in
ein Krokodil-das-auf-der-Straße-sitzt-und-die-Zähne-fletscht und nicht in ein
Krokodil-das-im-Müllkasten-liegt-und-sich-die-Därme-durchrütteln-läßt verwandelt
hatte, blieb sie keine Sekunde lang in dem Auto, sondern saß sogleich wieder,
nur ein Stückchen weiter vorn, auf der Straße.
»Was Teufel«, sagte
Herr Karsunke zu sich, »noch ein Krokodil?« Er hob auch dieses Krokodil in sein
Auto. Und wieder saß Meta ein Stück vor ihm und blickte ihn mit bösen Augen an
und fletschte die langen gelben Zähne. Und so ging das denn immer weiter. Und
der Vorgang wiederholte sich so oft, dass Herr Karsunke, als er seine Strecke
abgefahren hatte, glaubte, er hätte seinen riesengroßen Kasten jetzt bis zum
Rand voll mit Krokodilen.
Er fuhr den Schuttberg
hinauf und stellte sich mit der Rückseite des Müllautos an dessen
Rand. Und dann zog er den Hebel, der die hintere Tür öffnet und die ganze
Ladung den Berg hinunterkippt. Doch als er nachsah, war kein einziges Krokodil
herausgefallen.
Alles, was da die
Halde hinabrollte, war ein bisschen Knüllpapier, einige Sofaspiralen und sechs
oder sieben Dachschindeln, die vom letzten Sturm her auf dem Pflaster gelegen
hatten. Herr Karsunke, der genau wusste, wie viele Krokodile er
aufgesammelt hatte, rieb sich ein paar Mal mit dem Handrücken über die Augen.
Das half natürlich auch nichts. Er ging verstört zur Fahrerkabine zurück.
Neben der Fahrerkabine
saß ein Krokodil; es fletschte die langen und gelben Zähne und sagte
entschuldigend: »Aber ich bin doch die Meta!« »Wenn das so ist ...«, versetzte
Herr Karsunke, »werde ich mich bei deinen Eltern beschweren.«
Und noch desselbigen
Tages, nachdem er sich gewaschen und zwei Stullen gegessen hatte, ging Herr
Karsunke zum Hause der Familie Morfoss und läutete an der Tür. Die Tante
öffnete ihm.
»Karsunke«, sagte der
Müllmann mit einer Verbeugung.
»Maffrodit«, stellte
sich die Tante ihrerseits vor.
»Nun«, sagte der
Müllmann. »um ein Wort von Mann zu Mann zu reden ... «
»Von Mann zu Frau«,
unterbrach ihn die Tante und zwirbelte ihren Schnurrbart. »Entschuldigen Sie,
Frau Maffrodit«, sagte der Müllmann. »Herr Maffrodit bitte«, verbesserte die
Tante.
»Also Herr Maffrodit«,
sagte der Müllmann, »von Mann zu Frau, oder sagen wir vielleicht lieber: Ganz
unter uns zwei beiden, ich habe eine Beschwerde über ihr Fräulein Nichte
vorzutragen.«
»Kommen Sie nur ruhig
herein«, sagte die Tante. »Der Lehrer Pauli ist auch schon drin, es ist ein
Abwasch.«
Herr Karsunke folgte
Herrn Maffrodit ins Wohnzimmer, und Frau und Herr Morfoss und Herr Dr. Pauli
gaben ihm die Hand, und Herr Morfoss brachte ein paar Flaschen Bier, und dann
saßen sie alle um den Tisch herum und redeten über Meta.
»Ich weiß nicht, von
wem sie das hat«, sagte Frau Morfoss.
»Geerbt kann sie es
nicht haben; denn weder mein Mann noch ich haben jemals die mindeste Lust
verspürt, uns in allerlei fremdes Zeug zu verwandeln. Beigebracht haben
wir es ihr natürlich auch nicht.«
»Kinder kommen eben manchmal
auf Ideen«, sagte Herr Morfoss.
»Ich muss bestätigen«,
erklärte Herr Dr. Pauli, »dass sie sich meistens recht rücksichtsvoll
verhält.« »Außer wenn sie ein Krokodil ist«, rief Herr Karsunke.
»Zugegeben«, sagte der
Lehrer. »Das geht entschieden zu weit.«
»Sie ist hässlich«,
sagte Herr Karsunke.
»Außer wenn sie ein
Engel ist«, widersprach Frau Morfoss.
»Wie?« fragte der
Müllmann, »sie ist auch gelegentlich ein Engel?«
Frau Morfoss beteuerte es.
»Aber dann liegt der
Fall ja noch schlimmer, als ich dachte« sagte der Müllmann. »Wenn sie stets ein
Krokodil wäre, wüsste man wenigstens mit der Zeit, woran man ist. Ein Krokodil,
das ist nicht das Ärgste. Aber nun auch noch ein Engel!«
»Was haben Sie gegen
Engel?« erkundigte sich der Lehrer.
»Gar nichts«, sagte
Herr Karsunke, »im Gegenteil, ich finde Engel ausgesprochen niedlich, ich
verlange nur eins: Dass sie sich endlich entscheidet, wer sie sein will, damit
man sich daran gewöhnen kann.«
»Wir haben uns auch so
daran gewöhnt«, sagte Herr Morfoss.
»Es ist doch ganz
klar, wer sie ist«, sagte Frau Morfoss.
»Sie ist doch die
Meta.«Hier erhob sich Herr Maffrodit, die Tante.
»Natürlich muss man
verhindern, dass sie dumme Streiche macht«, sagte sie. »Aber im übrigen glaube
ich nicht, dass man viel an ihr ändern kann. Und wenn ich es zum Beispiel
könnte, wüsste ich gar nicht, wo ich das Recht dazu hernehmen sollte.«
Danach schwiegen sie
eine Weile.
Und dann ging Herr
Morfoss in die Speisekammer und holte noch ein paar Flaschen Bier, und die
tranken sie zusammen aus und sprachen von Dingen, die minder erwähnenswert sind
und die wir deshalb auch keineswegs erwähnen wollen.
Und darum sieht es so
aus, als würde Meta Morfoss nicht aufhören, sich zu verwandeln: In einen Felsen
oder in einen Goldfisch oder in irgendetwas, auf das wir jetzt gar nicht
kommen.
Vielleicht eines
Tages, wenn wir in aller Gemütlichkeit ein Buch lesen, kann geschehen, dass wir
das Buch aufschlagen und es überraschenderweise in sehr artigem Tone zu uns
sagt: »Aber ich bin doch die Meta!«
Denn möglich ist ja
mehr, als wir oft denken.
Peter Hacks