Laurenzo lehnte seine Stirn an die Fensterscheibe und starrte in das Schneetreiben. Wann in den letzten Jahren hatte es jemals so geschneit? Der Garten lag bereits unter einer dicken Schneedecke und der Weg jenseits des Gartenzauns war kaum noch zu erkennen. Es dämmerte bereits, eigentlich hätten Alica und die Kinder schon zurück sein müssen. Die pure Unvernunft, heute mit dem Auto zu fahren. Sie hatten jedoch nur geheimnisvoll gelächelt und irgendetwas von Weihnachtsgeschenken gemurmelt, als er sie gefragt hatte, ob sie tatsächlich bei diesem Wetter in die Stadt wollten. Laurenzo seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Er hatte seine Weihnachtsgeschenke natürlich längst besorgt.
Weihnachten!
Morgen war der Heilige Abend. Kaum zu glauben, dass schon wieder ein Jahr
vergangen war. Die Zeit verging so schnell. Die Kinder waren fast zwölf Jahre
alt, gar nicht davon zu reden, wie lange er mit Alica nun bereits verheiratet
war. Vierzehn Jahre? Oder waren es gar schon fünfzehn? Nachdenklich ging er in
den Abstellraum, um die Schachtel mit dem Schmuck für den Weihnachtsbaum zu
holen. Natürlich stand sie im obersten
Regal. Nun, Laurenzo war groß, und eine kleine Trittleiter stand auch da. Diese
Aufgabe schien also lösbar. Schwieriger wurde es schon, wenn er den
Weihnachtsbaum und den altgedienten, etwas antiquarisch aussehenden
Christbaumständer davon überzeugen musste, bis zum Heiligen-Drei-Königs-Tag fest zusammenzuhalten.
Seufzend stieg
er in den Keller und machte sich an die Arbeit. Kaum eine Stunde später hatte
er es geschafft. Der Baum stand. Und das auch noch aufrecht wie ein Zinnsoldat.
„Ziel erreicht“, murmelte er zufrieden und schleppte den Baum mitsamt Gestell
ins Wohnzimmer. Vor dem Kamin schien ihm der richtige Platz zu sein, und dort
stellte er ihn ab. Die Schachtel mit dem Schmuck stand ungeöffnet auf dem
Wohnzimmertisch. Laurenzo ließ sich aufs Sofa fallen und zog die Schachtel zu
sich heran. Vorsichtig nahm er den Deckel ab. Welch eine Pracht und
Herrlichkeit lag da vor seinen Augen! Glänzende Kugeln, Silbergirlanden und
glitzernde Sterne, Engel und Rentiere. Seit er ein Kind war, versetzte ihn
dieser Anblick in freudige Erregung.
Er blickte
auf die Uhr. Wo Alica und die Kinder nur blieben? Nun, Alica war eine gute und
sichere Autofahrerin. Bei diesem Wetter würde sie langsam fahren müssen. Er
brauchte sich keine Sorgen zu machen. Er würde die Zeit nützen, um den
Weihnachtsbaum zu schmücken.
Sorgfältig
begann er, eine Kugel nach der anderen auf den Baum zu hängen. Bis nur mehr
eine einzige Kugel in der Schachtel lag. Diese eine ganz besondere Kugel.
Bezüglich Schönheit konnte sie sich mit den anderen nicht messen. „Willst du
diese Kugel nicht endlich wegwerfen?“ hörte
er Alica in seinen Kopf fragen. „Papa, diese Kugel passt doch gar nicht zu den
anderen“, hörte er die Kinder. Nein, diese Kugel würde er nicht wegwerfen. Fast
zärtlich nahm er sie aus der Schachtel und betrachtete sie nachdenklich. In der
Tat, sie passte wirklich nicht zu den anderen. Sie war im Laufe der Jahre matt
und glanzlos geworden. Außerdem hatte sie einen braunen Brandfleck, da sie
einmal zu nahe an einer brennenden Kerze gehangen hatte. Und leider war sie
auch das, was Alica und die Kinder als „fürchterlich kitschig“ bezeichneten.
Silbern mit grünen Streifen. Auch Laurenzo fand sie nicht schön. Jedoch zierte
diese Kugel seit seiner Kindheit jeden Weihnachtsbaum, an den er sich erinnern
konnte. Nichts und niemand würden ihn dazu bringen, sie wegzuwerfen.
Bilder
tauchten vor seinem inneren Auge auf. Ein riesengroßer Weihnachtsbaum. So prächtig, wie er nie einen gesehen hatte.
Die brennenden Kerzen. Zwei kleine Jungen mit großen, leuchtenden Augen – er
und sein jüngerer Bruder. Sein Vater, der auf dem Klavier „Stille Nacht“
spielte. Seine Mutter mit dem Baby im Arm - seiner kleinen Schwester - deren
Geburt sie fast das Leben gekostet hatte. Erst am Vortag hatte sie das
Krankenhaus verlassen können. Und dass sie nun hier mit ihnen stand, grenzte an
ein Wunder. Er selbst musste damals vier Jahre alt gewesen sein. „Dies ist ein
besonderer Tag heute“, hörte er seinen Vater murmeln. „Ein ganz besonderer
Weihnachtsabend.“ Und sein Blick ruhte
mit großer Zärtlichkeit auf ihnen allen.
Laurenzo sah
die Kugel in seiner Hand an. „Erinnerst du dich daran?“ flüsterte er.
„Ja, ich
erinnere mich.“ Laurenzo spürte die Antwort der Kugel in seiner Hand, in seinem
Bauch, ja in seinem ganzen Körper. „Ich erinnere mich auch an das Weihnachtsfest
einige Jahre später. Dein Großvater –
der Vater deiner Mutter – war zu Besuch gekommen, und du hast ihn damals zum
ersten Mal gesehen. An diesem Tag überwand er endlich den Groll, den er gegen
deine Mutter hegte, seit sie deinen Vater
– einen mittellosen Künstler , wie er es nannte – geheiratet hatte. „Ein
besonderer Tag“, sagte deine Mutter mit Tränen in den Augen. „Ein ganz
besonderes Weihnachtsfest.“ Ihr größter
Wunsch – Frieden zu schließen mit ihrem Vater - war in Erfüllung gegangen.
Laurenzo
schwieg lange und dachte an seinen Großvater, den er in den folgenden Jahren als einen ganz
besonderen Menschen erlebt hatte und der ein unverzichtbarer Bestandteil seiner
Kindheit geworden war. Wie lange war das
nun her? Sein Großvater war gestorben, ehe er Alica kennengelernt hatte.
Dann das
Weihnachtsfest, als sein Vater sein Engagement verloren hatte und sie kein Geld
hatten. „In diesem Jahr wird es keine Weihnachtsgeschenke geben“, hatte seine
Mutter traurig gesagt. Sein Bruder und seine Schwester zogen unglückliche
Gesichter. Aber er war schon groß und verstand das. „Das macht doch nichts“, hatte er sich beeilt
zu sagen, um die Mutter zu trösten. Es
hatte dann doch noch für ein kleines Geschenk für jeden gereicht. Seine
Schwester hatte eine kleine Puppe bekommen, sein Bruder ein Spielzeugauto und
er selbst warme Socken, die er dringend gebraucht hatte. Er kämpfte tapfer mit
den Tränen und versuchte, niemanden merken zu lassen, dass er auch lieber ein
Auto gehabt hätte.
„Keiner außer
mir hat es gesehen“, murmelte die Kugel.
„Und dann,
als du für deine Mutter diese schrecklichen Topflappen genäht hast und dafür
ihr bestes Handtuch zerschnitten hast. Ihr Gesicht werde ich nie vergessen.“ Es schien Laurenzo, als schüttelte sich die
Kugel vor Lachen in seiner Hand. Ja, auch Laurenzo würde das Gesicht seiner
Mutter niemals vergessen, diese Mischung aus gespielter Freude über diese
furchtbaren Topflappen und das ungläubige Staunen über das zerschnittene
Handtuch. Und dazu das laute, dröhnende Lachen seines Vaters.
Irgendwann
kam Alica in sein Leben. Er brauchte nur
drei Sekunden, um zu wissen, dass sie die Frau war, mit der er sein weiteres
Leben verbringen wollte. Sie hatten geheiratet, als sie sich kaum ein Jahr
kannten, und es bis jetzt nie bereut. „Mein erstes Weihnachtsfest mit Alica.
Erinnerst du dich?“ frage er leise. Natürlich erinnerte sich die Kugel. „Unsere
erste gemeinsame Wohnung. Eine kleine Dachwohnung mit einem rauchenden und fauchenden
Ofen. Wir hatten es gerade noch geschafft, vor Weihnachten die nötigsten Möbel
zu beschaffen. Ein besonderer Tag, sagte Alica lächelnd, als wir Hand in Hand
vor dem kleinen, windschiefen Weihnachtsbäumchen standen. Unsere ersten gemeinsamen Weihnachten.“
Versonnen
betrachtete er die Kugel in seiner Hand. „ Und du hingst ganz vorne auf dem
Baum.“
„Ja, in der
Tat“, murmelte die Kugel. „Das war ein ‚heißes‘
Weihnachtsfest. Alica hängte mich
zu nahe an eine brennende Kerze. Ich glaube, das tat sie absichtlich. Sie
mochte mich nie.“
Es war
dunkel geworden und im Raum herrschte Stille. Es schien ihm, als zögen alle
Weihnachtsabende seines Lebens an ihm vorüber. Die ersten Weihnachten mit den
Kindern. Der Heilige Abend mehrere Jahre
später, an dem seine beiden Buben einen halb erfrorenen und ausgehungerten
Dackelmischling gefunden und mit nach Hause gebracht hatten. Nachdem sie tagelang
nach den Besitzern geforscht hatten, aber niemand auf ihn Anspruch erhoben
hatte, behielten sie ihn und nannten ihn Bob.
„Und das
Weihnachtsfest darauf, an dem Alica mir das Leben gerettet hat“, raunte die
Kugel.
„Dir das
Leben gerettet?“
„Ja, sie
weigerte sich eisern, mich auf den Baum zu hängen und versteckte mich ganz tief
in der Schachtel unter dem übrig gebliebenen Lametta. Dann warf der verrückte
Bob in seiner Begeisterung und seiner
Gier nach den Zuckerringen, den ganzen Baum um, und alle Kugeln lagen in
Scherben. Du musstest sehen, wo du im letzten Augenblick noch neue auftreiben
konntest.“
„Ja“,
Laurenzo lächelte in der Erinnerung, „ich konnte mir einige Kugeln von den
Nachbarn borgen. Und du hingst natürlich wie immer ganz vorne auf dem Baum.“
Lange saß
Laurenzo noch im Dunkeln, die Kugel in seiner Hand.
Endlich
hörte er das Auto die Auffahrt entlang rollen, das Schlagen der Autotüren und
bald darauf Alica und die Kinder ins Haus stürmen. Erleichtert stand er auf und
ging ihnen entgegen. Erst jetzt spürte er, dass er sich doch Sorgen gemacht
hatte. Sie würden nun zu Abend essen und Alica und die Kinder würden kreuz und
quer durcheinander von ihren Erlebnissen
berichten. Den Christbaum würde er später fertig schmücken. Und morgen, wenn er
gemeinsam mit seiner Familie das Weihnachtsfest feiern würde, würde seine Kugel
wie immer am Baum hängen. Ganz vorne.