Im Laufe meiner Mentaltrainerausbildung bekamen wir eine scheinbar einfache Aufgabe:
Auf einem Fragebogen mit diversen Eigenschaften sollten wir all jene ankreuzen,
die wir uns selbst zuordnen würden.
Besonders schwierig war das nicht – fand ich.
Ich weiß zwar nicht mehr genau, was ich alles angekreuzt habe, aber ich bin mir
sicher:
Ein paar Grundtugenden wie Geduld, Friedfertigkeit, Toleranz,
Flexibilität und Empathie waren bestimmt dabei.
Ich kannte meine positiven Seiten. Und mein Licht wollte ich ja nun wirklich
nicht unter den Scheffel stellen.
Als meine Kinder später diesen Bogen zu Gesicht
bekamen, rollten sie sich vor Lachen auf dem Boden.
„So siehst du dich, Mama? Ehrlich??“
Mein Mann rollte zwar nicht – weder auf dem Boden noch mit den Augen – aber
auch er kicherte verhalten.
Ich verstand ihre Reaktion zunächst nicht.
Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass zwischen „So bin ich“ und „So
wäre ich gern“ manchmal Welten liegen.
Ich hatte nicht angekreuzt, wie ich bin,
sondern wie ich gern wäre.
Diese Erkenntnis war im ersten Moment nicht ganz
leicht zu verdauen.
Hatte ich mir jahrelang etwas vorgemacht?
War mein Selbstbild nur ein Wunschbild – liebevoll gebügelt, aber etwas
abgehoben?
Oder war es vielmehr so, dass diese Eigenschaften durchaus in mir angelegt
sind,
aber im Alltag nicht immer so zum Vorschein kommen, wie ich es mir wünsche?
Mit etwas Abstand wurde mir klar:
Unsere Selbstwahrnehmung ist oft stark von unseren Idealen geprägt.
Wir möchten geduldig, friedfertig, tolerant, flexibel und empathisch
sein –
weil wir wissen, dass diese Eigenschaften wertvoll sind. Für uns selbst. Für
andere.
Doch das Leben stellt uns täglich auf die Probe.
Stress im Job, ein unfreundlicher Mitmensch, eine unangenehme Nachricht, eine
schlaflose Nacht –
und plötzlich sind all die edlen Tugenden auf Tauchstation.
Vielleicht ist es genau das, was Entwicklung
ausmacht:
Sich ehrlich zu fragen, wer man sein möchte,
und mit ebenso viel Ehrlichkeit hinzusehen, ob man wirklich so handelt.
Diese Übung war für mich ein Spiegel.
Nicht einer, der nur meine Stärken zeigt – sondern auch die kleinen
Entwicklungsfelder,
die man mit einem Augenzwinkern liebevoll „Luft nach oben“ nennen könnte.
Seitdem beobachte ich mich achtsamer.
Nicht, um mich zu bewerten – sondern um bewusster zu werden.
Ich frage mich öfter:
„Stimmt mein Handeln mit meinen Idealen überein?“
„Bin ich wirklich die, die ich sein möchte – oder hinke ich gerade meinem
Idealbild hinterher?“
Ich habe gelernt, mir selbst ehrlicher zu
begegnen –
und gleichzeitig mit mehr Nachsicht.
Denn der Weg zwischen „So bin ich“ und „So
wäre ich gern“ ist kein Sprint.
Aber jeder Schritt zählt.
Und manchmal reicht es, wenn man am Abend sagen kann:
Heute war ich mir ein kleines Stück näher.
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