Auch wer glaubt, nicht zu urteilen,
tut es oft doch –
leise, beinahe unbemerkt,
und doch unaufhörlich.
So, wie wir andere einordnen,
werden auch wir ständig beurteilt.
Von jedem Menschen, dem wir begegnen.
Jeder glaubt, zu wissen,
wer wir sind.
Und wie wir sind.
„Du bist ein wunderbarer Gesprächspartner.“
„Mit dir kann man überhaupt nicht reden.“
„Du bist so geduldig.“
„Du verlierst ständig die Nerven.“
„Du bist bescheiden.“
„Du bist arrogant.“
„Du bist faul.“
„Du bist nicht besonders klug.“
„Du schaffst so viel.“
„Du bist überaus intelligent.“
„Du bist hübsch.“
„Du bist unscheinbar.“
Zu laut. Zu leise. Zu schweigsam. Zu aufdringlich.
Genau richtig. Besser als. Schlechter als.
Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Und das Erstaunliche ist:
All das könnte über ein- und denselben Menschen gesagt werden.
Vielleicht liegt es an den unterschiedlichen Blickwinkeln der Menschen,
vielleicht an unserem Verhalten in bestimmten Situationen,
zu bestimmten Zeiten.
Aber eines ist gewiss:
Nichts davon sind wir.
All das sind Zustände.
Momentaufnahmen.
Urteile.
Veränderlich.
Und das Wunderbare daran ist:
Wir müssen keines dieser Urteile glauben.
Trotzdem übernehmen wir sie oft.
Die negativen verletzen uns,
die positiven schmeicheln uns.
Und doch sind sie alle nur eines: Meinungen.
Lob ist ein Urteil.
Kritik ist ein Urteil.
Für unsere Klugheit bewundert zu werden
ist nicht weniger ein Urteil,
als für unsere Dummheit verachtet zu werden.
Die beste Ehefrau der Welt zu sein,
ist ebenso ein Urteil wie vielleicht zehn Jahre später
ein „unerträgliches Monster“ im Scheidungsverfahren zu sein.
Lob tut uns gut –
aber es ändert nichts an dem,
was wir in Wahrheit sind.
Wir sind nicht, was andere über uns denken.
Nicht in den Höhen.
Nicht in den Tiefen.
Wir wären gut beraten,
uns von all diesen Meinungen –
auch von unseren eigenen –
nach und nach zu lösen.
Der erste Schritt:
uns selbst annehmen.
Nicht als das, was wir „sollten“ –
sondern als das, was wir sind.
Und vielleicht,
wenn wir damit beginnen,
uns selbst mit anderen Augen zu sehen –
liebevoller, freier –
könnten wir auch unsere Urteile über andere
zurücknehmen,
noch bevor wir sie denken.
Vielleicht könnten wir,
ehe wir sagen oder denken:
„Du bist …“
einfach innehalten
und uns eingestehen:
„Ich weiß es nicht.
Ich habe nur eine Meinung.
Mehr nicht.“
Vielleicht beginnt wahre Liebe dort,
wo wir aufhören zu sagen „Du bist“ –
und stattdessen fragen: „Wer bist du wirklich?“
Denn wir sehen nie den Menschen.
Wir sehen nur das, was wir über ihn glauben.
Lass uns lernen, einander nicht zu benennen,
sondern zu begegnen.
Jedes Urteil trennt uns.
Jedes offene Herz verbindet.
Wir sind nicht, was andere in uns sehen.
Wir dürfen sein, was wir wirklich sind.
Und jeder andere darf das auch.
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