Berge? Schön, aber anstrengend. So beginnt die Geschichte von Johannes, einem eher wanderfaulen Schriftsteller, der eines Tages von einem Freund zu einer Bergtour überredet wird – und dort nicht nur Höhenmeter, sondern auch eine ganz neue Sicht auf das Leben gewinnt.
Mit feinem Humor und liebevoller Ironie erzählt diese Kurzgeschichte vom unerwarteten Glück der Berge, von Hüttenabenden, Schnaps, Stallarbeit und einer Frau namens Martha.
Eine Erzählung über das Bleiben, das Wachsen – und die Schönheit, die sich nicht auf den ersten Blick zeigt.
Viel Freude beim Lesen!
Kein Gipfel ohne Käsebrot
Die Berge und ich – wir waren nie eine Herzensgemeinschaft. Ich finde Berge durchaus schön. Beeindruckend. Was auch immer. Aber ich habe nie verstanden, warum man sie erklimmen sollte, nur um dann oben zu stehen, herunterzuschauen, ein Bier zu trinken, ein Käsebrot zu essen – und wieder hinunterzuklettern.
Wenn Gott gewollt hätte, dass wir uns auf den Bergen herumtreiben, hätte er uns
dort oben angesiedelt und nicht unten im Tal.
Mein Haus liegt auf etwa vierhundert Metern Seehöhe. Verglichen mit
beispielsweise Hamburg ist das ohnehin schon ein Berg.
Nur um das klarzustellen: Ich mag Berge. Wenn ich oben bin – vielleicht per
Hubschrauber. Oder unten. Das halte ich sowieso für die natürlichere Variante.
Mein Freund Otto sieht das anders.
„Johannes“, sagt er immer, „du ahnst ja nicht, was dir entgeht. Wenn man da
wandert zwischen diesen erhabenen Bergriesen –“ (ja, er sagt tatsächlich erhabene
Bergriesen) „– da spürt man ein ungeahntes Glücksgefühl. Freiheit!“
Natürlich habe ich schon einmal einen Berg bestiegen. Ist gut dreißig Jahre
her.
An dieses „ungeahnte Glücksgefühl“ erinnere ich mich nicht. Vor allem nicht
während des Aufstiegs. Der war mühsam und schweißtreibend. Oben ging’s dann. Da
wurde ich sogar ein wenig glücklich. Ich musste zugeben: Oben auf einem Berg
ist es gar nicht so schlecht. Nur den Aufstieg möchte ich nie wieder erleben
müssen.
Otto wollte unbedingt Fotos von uns beiden vor dem Gipfelkreuz machen. Zu
dem Zeitpunkt war ich schon zu erschöpft, um zu widersprechen. Also machten wir
Fotos. Eines davon hängt heute noch in der Hütte – gleich neben dem Kachelofen.
Irgendwann saßen wir dann vor einem kühlen Bier in der urigen Hütte. Urig
– so nennt man das doch hier oben, oder?
Die Hüttenwirtin gefiel mir. Etwas resolut, aber kurvig – um nicht zu sagen:
formenreich. Ich konnte die Blicke nicht von ihr lassen, und plötzlich wurde
mir das „Glück der Berge“ etwas verständlicher.
Bald drehte sich das Gespräch in der Hütte darum, wer wie lange für den
Aufstieg gebraucht hatte. Zwei Stunden vierzig. Zweieinhalb. Einer schaffte’s
sogar in zwei Stunden zwanzig.
„Eine Stunde fünfzig“, warf ich lässig ein – und erntete bewundernde Blicke.
Auch von der Wirtin.
Die Wahrheit hätte mir ohnehin keiner geglaubt. Denn niemand, wirklich niemand,
braucht mehr als fünf Stunden für diesen Anstieg. Und Otto schwieg. Zum Glück.
Als das Thema erledigt war, wurde es gemütlich. Wir tranken Bier, sangen
Lieder – von blauen Bergen, Edelweiß und dem Frühtau. Und ich merkte langsam,
dass die Berge durchaus ihren Reiz hatten. Besonders, wenn mich die Wirtin
anlächelte.
Schließlich beschloss ich, den Abstieg auf morgen zu verschieben. Es würde
hier ja wohl eine Schlafgelegenheit geben.
Otto wollte nicht bleiben, und dass ich morgen allein wieder ins Tal fände,
bezweifelte er.
Trotzdem fragte ich die Wirtin, ob sie ein Zimmer für mich hätte.
Sie sah mich an, als hätte ich ihr ein unmoralisches Angebot gemacht.
Lange. Mit gerümpftem Gesicht – nein, nicht nur die Nase, das ganze Gesicht.
Dann sagte sie endlich: „Ja, das Grandhotel sind wir hier nicht. Aber ein Bett
zum Schlafen kannst schon haben.“
Sie drehte sich um, ging Richtung Küche, und rief über die Schulter, so dass es
jeder hören konnte:
„Und dass du dir keine falschen Hoffnungen machst!“
Das Gelächter in der Hütte wollte gar nicht enden. Aber egal. Ich blieb.
„Magst noch einen Schnaps?“, fragte sie später, als alle gegangen waren.
Ja, das wollte ich. Ich sah darin eine Chance, rasch einzuschlafen – und nicht
doch noch auf dumme Gedanken zu kommen.
Als wir einander an dem groben Holztisch gegenübersaßen, hob sie ihr Glas.
„Ich bin die Martha.“
„Johannes“, sagte ich, und stieß mit ihr an.
„Was machst denn so? Schaust aus wie ein Studierter.“
„Ich bin Schriftsteller. Ich schreibe Romane.“
Sie schlug mit der Hand auf den Tisch. „Na da schau her! So einen hatten
wir auch noch nie da!“
Ich lächelte geschmeichelt.
„Na, da wirst morgen Früh schauen – beim Stallausmisten. So was hast ja
sicher noch nie gemacht, oder?“
Da musste ich ihr recht geben. Und ehrlich gesagt, hatte ich auch nicht vor,
das künftig zu tun. Aber das würden wir morgen klären.
Am nächsten Morgen, als ich aus der Hütte trat, ging gerade die Sonne auf.
Es war atemberaubend. Ich musste gestehen: Die Berge hatten etwas. Wenn nur der
Aufstieg nicht wäre.
Martha brachte mir ein wunderbares Frühstück – frisches Brot, Butter, Käse und
eine Kanne Kaffee. Wie hätte ich da zur Stallarbeit Nein sagen können?
Also schufteten wir im Stall und versorgten die Tiere.
„Morgen zeig ich dir dann, wie man mit der Sense umgeht“, sagte sie zufrieden.
Und so erfuhr ich, dass ich auch morgen noch hier sein würde.
Der Sommer verging. Nicht jeder Morgen begrüßte mich mit Sonnenschein. Aber
ich lernte, auch Regen und Sturm zu lieben. Und im Winter den Schnee. Und
natürlich – Martha.
Ist es wirklich schon dreißig Jahre her?
Ach ja, ich habe ganz vergessen zu sagen: Ich bin hier der Hüttenwirt. Seit
dreißig Jahren.
Denn wenn man den Aufstieg einmal geschafft hat, wäre es doch blöd, wieder
hinunterzugehen. So blieb ich eben.
Es ist schön hier. Im Sommer ist viel los. Da haben wir alle Hände voll zu
tun. Im Winter schreibe ich meine Bücher.
Ich kann die Berge nur jedem empfehlen.
In meinem alten Haus im Tal wohnt jetzt mein jüngerer Bruder mit seiner Familie
– vier Kinder, zwei Hunde und soviel ich weiß auch eine Katze.
Und ich?
Liebe auf den ersten Blick war es nicht mit den Bergen und mir. Aber wir haben
uns zusammengerauft.
Glück wächst eben manchmal langsam – grad so, wie ein Berggipfel aus dem Nebel
auftaucht.
Nicht anders.

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