Wir tragen nicht nur Erinnerungen in uns – wir tragen Geschichten. Sätze, die wir über uns selbst sagen, glauben und wiederholen. Manche stammen aus der Kindheit, andere haben wir selbst erfunden.
Alles, was wir über uns zu wissen glauben – was wir über uns erzählen –, sind solche Geschichten, und wir alle tragen sie mit uns herum.
Keine Lebensgeschichte, sondern eine Ich-Geschichte.
Die Geschichte, die wir immer wieder erzählen. Nicht nur anderen – auch uns
selbst.
Wir zeichnen ein Bild von uns, an das wir felsenfest glauben – und an
dem wir festhalten.
„Ich bin
eben so.“
„Das mag ich – das nicht.“
„Das kann ich, und das kann ich nicht.“
„Das halte ich nicht aus.“
„Ich bin ein Einzelgänger.“
„Ich bin kein Sympathieträger.“
„Ich nehme so schnell zu.“
„Ich fühle mich in Gruppen nicht wohl.“
„Ich bin anfällig für diese oder jene Krankheit.“
Ich lernte
mit acht Jahren die Geschichte:
Wenn man sprachlich begabt ist, ist man automatisch schlecht in Mathematik.
In beidem gut zu sein – das geht gar nicht.
Dieser
Satz sollte mich nicht entmutigen, sondern trösten.
Ich war nie schlecht in Mathematik – aber meine mathematischen Fähigkeiten
konnten mit meinen sprachlichen nicht mithalten.
Also speicherte ich: Sprache gut – Mathe schlecht. Punkt. Keine Diskussion.
Ich
lernte, dass ich keinen Orientierungssinn habe.
Dass ich mich verlaufe. Immer.
Und irgendwann begann ich, genau das zu erzählen. Wieder und wieder.
Bis es eine unumstößliche Wahrheit wurde – zumindest in meinem Kopf.
Irgendwann
begann ich, diese Geschichte zu hinterfragen.
Und ich stellte fest: Ich hatte bislang immer dorthin gefunden, wohin ich
wollte – und auch wieder zurück.
Sonst wäre ich jetzt nicht hier.
Natürlich
gibt es auch Geschichten, die ich selbst erfunden habe.
Zum Beispiel die Geschichte, dass ich kein „Gruppenmensch“ bin.
Dass ich niemals mit einer Gruppe fremder, halb bekannter oder sogar vertrauter
Menschen verreisen könnte.
Oder die Geschichte, dass ich mich eher zurückziehe, als mich einem Konflikt
auszusetzen.
(Das gilt allerdings nicht innerhalb der Familie. Dort kann ich Konflikte sogar
provozieren – ziemlich gekonnt, um ehrlich zu sein. 😉)
Was steht
hinter solchen Geschichten?
Angst?
Unsicherheit?
Schutzmechanismen?
Bequeme Ausflüchte?
Ausreden?
Oder eine trügerische Sicherheit, die wir in unserer Selbstdefinition finden?
So sind
wir eben, sagen wir. Darauf können wir uns verlassen.
Daran gibt es nichts zu rütteln.
Aber ist
das wirklich wahr?
Woher stammen diese Sätze?
Von Eltern, Lehrern, Partnern, Freunden – oder von früheren Versionen unserer
selbst?
Oder haben
wir sie erfunden, um uns eine Rolle zu geben, in der wir uns sicher fühlen?
Wir sagen
so oft:
„Ich bin
…“
Und wir
glauben es.
Gar nicht ungefährlich, dieses Spiel.
Denn dieses Ich bin wirkt wie ein Mantra.
Es ist die Geschichte, die wir für wahr halten – und leben.
Sie
entbindet uns scheinbar von der Notwendigkeit, zu lernen, uns zu entwickeln,
uns zu verändern.
Zu glauben, dass wir etwas sind, hält uns klein.
Es verschließt uns die Freiheit, in jedem Moment neu zu entscheiden, wer wir sein
wollen.
Vielleicht
ist es Zeit, diese alten Geschichten zu hinterfragen – und sie loszulassen.
Vielleicht ist es Zeit, neue Geschichten zu erzählen.
Geschichten, die uns wachsen lassen. Geschichten, die atmen.
Geschichten, die uns von alten Begrenzungen befreien.
Vielleicht
sind wir gar nicht so.
Vielleicht ist „So bin ich eben“ nur ein alter Mantel, den wir irgendwann
angezogen haben – und der uns längst zu klein geworden ist.
Vielleicht
sind wir ganz anders.
Erzählen wir doch eine neue Geschichte – eine, die uns nicht begrenzt, sondern
lebendig macht.
Denn manchmal reicht ein einziger neuer Satz –
und unser ganzes Leben beginnt anders zu erzählen.

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