Die Brunnhubers
Ella Brunnhuber schnaufte die Treppe zur Küche hinauf, den Eimer voller Kohlen fest in beiden Händen. „Alles muss man allein machen“, murrte sie halblaut vor sich hin. Als sie an ihrem Mann vorbeikam, der gerade vom Zeitungholen zurückgekehrt war und sich nun im Vorraum die Schuhe auszog, wiederholte sie den Satz – diesmal eine Spur lauter.
Herr Brunnhuber
stellte sich taub. Nicht einmal ein Zucken der Wimpern verriet, dass er seine
Frau gehört hatte. Schweigend stellte er die Schuhe ordentlich an ihren Platz,
hängte die Jacke auf und legte den Hut auf die Ablage. Ohne Hut ging Herr
Brunnhuber nie aus dem Haus – nicht einmal zum Zeitungholen.
„Ein Hut
bedeutet, man ist behütet“, pflegte er zu sagen.
Ella hielt das
für ausgemachten Quatsch – und sagte ihm das auch regelmäßig. Doch Herr
Brunnhuber ließ sich nicht beirren. Er wollte behütet sein. Und davon
konnte ihn nichts und niemand abbringen. Nicht einmal seine schimpfende
Ehefrau.
Er war es
gewohnt, dass Ella schimpfte und grummelte. Nach über fünfzig Jahren Ehe nahm
er es gelassen. Und wenn es ihm doch einmal zu viel wurde, dann dachte er an
Torosa. Torosa – die ihm geholfen hatte, die Dinge neu zu sehen.
Seine Frau
wusste nichts von ihr. Hätte er ihr davon erzählt, sie hätte ihn für verrückt
erklärt.
Torosa lebte irgendwo in der Nähe, so viel stand fest – doch wo genau, wusste
er nicht. Sie erschien und verschwand, wie es ihr beliebte, ohne dass er je
herausfand, woher sie kam oder wohin sie ging.
Torosa war eine
Katze.
Aber keine gewöhnliche.
Sie leuchtete blau.
Und sie konnte sprechen.
Er konnte das
niemandem erzählen. Niemand hätte ihm geglaubt. Und niemand – außer ihm – hatte
Torosa je gesehen.
Er erinnerte
sich genau an den Tag,
an dem er Torosa zum ersten Mal gesehen hatte.
Es war im Juni, vor einigen Jahren.
Er hatte im
Garten gesessen und nachgedacht.
Ella war nicht zu Hause gewesen. Er hatte sich Sorgen gemacht – um seine
Gesundheit, denn der hartnäckige Husten, der ihn seit Monaten plagte, wollte
nicht besser werden.
Sorgen um seine Ehe, denn wirklich glücklich fühlte er sich nicht.
Ella schimpfte und grummelte von früh bis spät,
freundliche Worte hörte er kaum noch.
Und dann waren
da noch die Sorgen um seine Tochter.
Vor einem halben Jahr war sie ins Ausland gezogen, um zu heiraten.
Herr Brunnhuber
hielt nicht viel von Ausländern. Nicht, dass er grundsätzlich etwas gegen sie
hatte – aber zum Heiraten, fand er, waren sie nicht geeignet.
Er konnte es
nicht ändern.
Der Schwiegersohn war nun einmal Ausländer.
Aus Dänemark oder so.
Irgendwo da oben im Norden, wo es viel Wind gab und wenig Anstand, wie er
meinte.
Und warum
musste er ausgerechnet hierher kommen, in ihr kleines Dorf, um seine
Tochter zu heiraten?
Seine Tochter!
Seine wunderschöne, kluge Tochter!
Was hätte aus
der alles werden können…
Aber nein.
Da ging sie hin und heiratete einen Dänen.
Ausgerechnet einen Dänen.
Und während er
so in seinem Garten saß und sinnierte, bemerkte er plötzlich ein schwaches,
blaues Leuchten unter der Hecke.
Er rieb sich die Augen.
Doch das Leuchten blieb.
Inmitten des
Schimmers zeichnete sich langsam ein Gesicht ab – ein Katzengesicht.
Und dann, ganz ruhig und würdevoll,
trat sie hervor: eine Katze.
Blau leuchtend.
Elegant wie ein Traum.
„Wer bist du
denn?“, fragte Herr Brunnhuber verblüfft.
Diese Katze hatte er noch nie gesehen.
Er hatte überhaupt noch nie eine blau leuchtende Katze gesehen.
„Wohnst du etwa
unter meiner Hecke?“, fragte er weiter.
Die Katze schwieg.
Was ihm durchaus vernünftig erschien.
Sie sah ihn an.
Er sah sie an.
Und weil ihm
nichts anderes einfiel, fragte er:
„Hast du Hunger?“
Es kam ihm so
vor, als würde die Katze nicken.
Also ging er
ins Haus, öffnete den Kühlschrank
und fand – nichts, außer einem Becher Sahne.
Er goss die
Sahne in ein Schälchen
und brachte es nach draußen.
Die Katze lag
inzwischen auf der Gartenbank.
Er stellte das Schälchen vor sie hin.
Da hörte er
ganz deutlich eine Stimme.
Klar, ruhig, fast ein wenig vorwurfsvoll:
„Hast du keine
Erdbeeren?“
Natürlich hatte
Herr Brunnhuber Erdbeeren.
Sie wuchsen in seinem Garten – rote, saftige, stolze Exemplare.
Aber…
eine Katze, die nach Erdbeeren fragt?
Das konnte nicht sein.
Er hatte sich das sicher nur eingebildet.
Also blieb er
sitzen und sagte lieber nichts.
„Erdbeeren?“,
fragte die Katze erneut.
Er schwieg.
Das erschien ihm in dieser merkwürdigen Situation als das Sicherste.
Die Sonne
brannte ihm auf den Nacken.
Er dachte an Sonnenstiche.
Vielleicht war das der Grund für all das.
Oder er träumte.
Anders konnte er sich das alles jedenfalls nicht erklären.
Er schwieg.
Die Katze schwieg.
Die Welt schwieg.
Bis –
„Erdbeeren?“,
sagte die Katze zum dritten Mal.
Etwas nachdrücklicher.
Als wäre das die selbstverständlichste Frage der Welt.
Jetzt war es
Herrn Brunnhuber klar:
Er träumte.
Ganz eindeutig.
Und im Traum, fand er, konnte man ruhig auch einer Katze Erdbeeren holen –
ohne sich dabei dumm vorzukommen.
Also stand er
auf, ging zum Erdbeerbeet,
pflückte eine Handvoll Beeren, goss Sahne darüber und stellte das Schälchen vor
die Katze auf die Bank.
Sie setzte sich
aufrecht hin
und begann, ganz manierlich die Erdbeeren zu fressen.
Dann leckte sie genüsslich das letzte Tröpfchen Sahne aus der Schüssel.
„Wer bist du
nur?“, fragte Herr Brunnhuber leise.
Die Katze hob
den Kopf, sah ihn einen Moment an und sagte dann:
„Ich bin
Torosa.“
Sie steuerte
geradewegs auf ihn zu, den Mund schon voller Beschwerden:
über die unhöflichen Angestellten im Supermarkt,
über die alte Frau, die sich an der Kasse vorgedrängt hatte, und natürlich über
das Gartentor,
das immer noch knarrte, weil er sich – wie so oft –
nicht darum gekümmert hatte.
In diesem
Moment wusste Herr Brunnhuber:
Er träumte nicht.
Er war hellwach.
Er erwartete,
dass Ella gleich nach der Katze fragen würde.
Doch sie tat – nichts.
Kein Blick zur Bank, kein erstauntes Zucken,
kein „Was ist denn das für ein Viech?“
Sie ignorierte
die Katze vollständig.
Als wäre sie gar nicht da.
Verwirrt
blickte Herr Brunnhuber zu Torosa,
die sich seelenruhig auf der Bank putzte.
Dann zu Ella.
Dann wieder zu Torosa.
„Sag mal…“,
begann er zögerlich, „siehst du irgendetwas… Ungewöhnliches?“
Ella blieb
stehen, runzelte die Stirn.
„Ja, durchaus. Du hast einen frischen Pullover angezogen. Das tust du sonst
nicht freiwillig!“
Herr Brunnhuber
seufzte.
Er wollte gerade etwas erwidern, da flüsterte Torosa, ohne aufzublicken:
„Sag jetzt
nichts. Lächle nur freundlich.“
Er tat, wie
geheißen.
Er lächelte.
Ella warf ihm einen misstrauischen Blick zu –
dann schüttelte sie den Kopf und ging ins Haus.
„Siehst du?“
Torosa streckte sich auf der Bank. „So hast du dir einen Streit erspart.“
„Ja“, seufzte
Herr Brunnhuber erneut, „manchmal ist es halt anstrengend mit der Ella.“
„Nein“, sagte
Torosa leise, „es ist nicht grundsätzlich anstrengend mit ihr. Sie entscheidet
ja nicht, ob du dich anstrengst. Du tust das.
Und wenn du dich anstrengst – ja, dann ist es eben anstrengend.“
Herr Brunnhuber
runzelte die Stirn.
Dass er mit einer blau leuchtenden Katze sprach,
die offenbar Gedanken lesen konnte, verwunderte ihn mittlerweile nicht mehr
sonderlich.
„Wie meinst du
das?“
„Ganz einfach:
Wenn du entscheidest, deine Frau sei anstrengend, welche Möglichkeit hat sie
dann noch, etwas anderes zu sein als anstrengend?
Du gibst ihr die Rolle vor – und was immer sie tut oder lässt, du wirst es in
dieses Bild einfügen.“
„Aber so ist
das gar nicht!“, widersprach Herr Brunnhuber empört. „Ich nehme sie als
anstrengend wahr, weil sie es ist!“
Torosa sagte
nichts.
Und Herr Brunnhuber schwieg ebenfalls. Er war sich sicher, dass er recht hatte.
Er brauchte ihre Zustimmung nicht.
Doch je länger
Torosa schwieg, desto unruhiger wurde er.
Warum nur war ihm ihre Meinung plötzlich so wichtig?
Sie war doch nur eine Katze!
Eine sprechende, leuchtende Katze, aber immerhin…
„Weil diese
Katze offenbar klüger ist als du“,
kam es ruhig in seine Gedanken.
„Diese Katze kennt das Leben. Sie ist älter als du.
Und viel erfahrener.“
„Dann sag mir
doch, was ich falsch mache“,
murmelte Herr Brunnhuber, nun schon fast ein wenig kleinlaut.
„Du machst
nichts falsch“, sagte Torosa sanft.
„Du liebst nur nicht.“
„Was soll das
heißen? Ich liebe nicht? Ich bin seit Ewigkeiten mit Ella verheiratet!
Natürlich liebe ich sie.“
„Liebe heißt
nicht, dass man ewig zusammenwohnt.
Liebe heißt: An jemandem Freude zu haben.
Und zwar immer.“
Herr Brunnhuber
starrte auf seine Schuhe.
Er dachte nach.
Lange.
Torosa wartete geduldig.
„Aber wenn sie
keinen Anlass zur Freude gibt?“ fragte er schließlich leise.
Torosa
schüttelte den Kopf.
„Du willst es dir einfach machen“, sagte sie. „Du willst, dass sie dafür sorgt,
dass du dich freust.
Aber Freude ist deine Verantwortung. Du brauchst niemanden dazu.“
„Ja, aber man
braucht doch etwas, worüber man sich freuen kann.“, sagte Herr Brunnhuber
hilflos. „Ich kann mich doch nicht einfach wie ein Dummkopf vor mich hin
freuen!“
Torosa legte
den Kopf schräg, ihre Augen funkelten sanft.
„Und wer hat
dir erzählt, dass man ein Dummkopf sein muss, um sich zu freuen?“
Herr Brunnhuber
dachte eine Weile nach.
Dann hob er den Blick und sagte leise: „Es gibt Kriege auf der Welt. Menschen
werden sinnlos ermordet. Kinder verhungern. Tiere werden gequält. Wie – wie
soll man da Freude empfinden?“
Torosa
schüttelte den Kopf.
„In deiner unmittelbaren Wirklichkeit geschieht das alles gerade nicht. Es ist
in deinen Gedanken.
Und es sind nicht die Kriege, nicht die hungernden Kinder und nicht die
gequälten Tiere,
die dich belasten – sondern deine Gedanken darüber.“
Sie machte eine
kurze Pause, dann sah sie ihn ruhig an.
„Glaubst du
wirklich, auch nur ein einziger Krieg endet, ein einziges Kind wird satt, nur
weil du keine Freude empfindest?“
Herr Brunnhuber
schwieg.
„Du musst nicht
die Welt retten“,
fuhr Torosa sanft fort. „Alles, was geschieht,
geschieht aus einem Grund, auch wenn du ihn nicht erkennst.
Aber du… du
führst Krieg. In dir.
Den täglichen
Kleinkrieg mit Ella.
Den ständigen Krieg gegen dich selbst.“
Herr Brunnhuber
schwieg.
Er schwieg sehr lange.
Tief.
Nachhaltig.
Irgendwie hatte
diese Katze recht.
Mit allem.
Sein ewiges
Herummeckern. Seine Unzufriedenheit.
Sein Kleinkrieg mit Ella.
Sein Krieg mit sich selbst.
„Beende den
Krieg in deinem Herzen“,
hörte er Torosa flüstern.
„Und ruf mich, wenn du mich brauchst.“
Dann war sie
weg.
Ein leises Rascheln im Gras.
Kein blaues Leuchten mehr.
Nichts.
Herr Brunnhuber
schüttelte sich wie ein nasser Hund. Hatte er das alles wirklich erlebt?
War er vielleicht doch kurz eingenickt?
Aber nein.
Er war wach.
Hellwach.
Er blieb noch
eine Weile auf der Bank sitzen
und dachte nach.
Ja…
Ella zankte nicht allein. Er machte mit. Immer.
Er war
ungeduldig. Er konnte nicht verstehen,
dass ihr so vieles nicht passte. Und anstatt zuzuhören, verließ er das Zimmer.
Schaltete den Fernseher ein. Oder ging in den Garten.
Vielleicht
hatte sie sich genauso verlassen gefühlt wie er.
Er wollte das
ändern. Er wusste nicht genau, wie. Aber er wusste: So ging es nicht
weiter.
Er hatte seine
Ella doch gern. Auch wenn sie manchmal zänkisch war.
Oder gerade deshalb?
Und dann
stellte er sich zum ersten Mal eine Frage:
Wusste er überhaupt etwas über sie?
Über das, was in ihr vorging?
War sie glücklich?
War Freude in ihrem Herzen?
All die Jahre
hatte er erwartet, dass sie sich so verhielt, dass sie ihm ein Grund zur
Freude war.
Aber war er
je ein Grund zur Freude für sie?
Er ging ins
Haus und suchte nach Ella.
Er fand sie – wo sie fast immer war:
in der Küche.
Sie briet
Spiegeleier.
Einfach.
Für das Abendessen.
Er blieb in der
Tür stehen und sah sie an.
Sie wirkte nicht besonders glücklich.
Eher traurig.
Und… irgendwie verletzlich.
So hatte er sie
noch nie gesehen.
Oder war es nur so, dass er sie noch nie so angesehen hatte?
Er räusperte
sich.
Leise.
„Ella…?“
Sie drehte sich
um.
Misstrauisch.
Abwartend.
„Hab ich dir
eigentlich jemals danke gesagt?
Dafür, dass du dich um mich kümmerst? Und um den Haushalt?“
Ella starrte
ihn an.
Der Kochlöffel in ihrer Hand blieb kurz in der Luft stehen.
Dann zuckte sie mit den Schultern.
„Nein. Hast du
nicht“, murmelte sie,
und wandte sich wieder der Pfanne zu.
„Ist aber auch nicht nötig. Ist ja wohl meine Pflicht.“
Damit war das
Gespräch für sie offenbar beendet.
Sie deckte den Tisch
und verteilte die Spiegeleier auf zwei Teller.
Sie setzten
sich.
Begannen zu essen.
„Schmeckt gut“,
sagte Herr Brunnhuber fast ein wenig schüchtern. „Danke dafür.“
Ella antwortete
nicht.
Aber in ihrem Gesicht regte sich etwas.
Ein Lächeln.
Zart.
Unverhofft.
Echt.
Und ihre Augen
– sie begannen zu leuchten.
„Ich helfe dir
nachher beim Aufräumen“, sagte Herr Brunnhuber. „Und vielleicht…
machen wir noch einen kleinen Spaziergang?“
Er lächelte sie
liebevoll an.
Und siehe da –
sie lächelte zurück.
Ebenfalls liebevoll.
Ein wenig zögerlich.
Aber mit ganzer Seele.
Und das…
war erst der Anfang.
Aus dem Buch Torosa kommt auf leisen Pfoten

Wunder wunder schön.....regt zum Nachdenken an
AntwortenLöschenwunder wunder schön
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