Sonntag, 26. Oktober 2025

Liebe ist, wenn man sich freut

 Die Brunnhubers

Ella Brunnhuber schnaufte die Treppe zur Küche hinauf, den Eimer voller Kohlen fest in beiden Händen. „Alles muss man allein machen“, murrte sie halblaut vor sich hin. Als sie an ihrem Mann vorbeikam, der gerade vom Zeitungholen zurückgekehrt war und sich nun im Vorraum die Schuhe auszog, wiederholte sie den Satz – diesmal eine Spur lauter.

Herr Brunnhuber stellte sich taub. Nicht einmal ein Zucken der Wimpern verriet, dass er seine Frau gehört hatte. Schweigend stellte er die Schuhe ordentlich an ihren Platz, hängte die Jacke auf und legte den Hut auf die Ablage. Ohne Hut ging Herr Brunnhuber nie aus dem Haus – nicht einmal zum Zeitungholen.

„Ein Hut bedeutet, man ist behütet“, pflegte er zu sagen.

Ella hielt das für ausgemachten Quatsch – und sagte ihm das auch regelmäßig. Doch Herr Brunnhuber ließ sich nicht beirren. Er wollte behütet sein. Und davon konnte ihn nichts und niemand abbringen. Nicht einmal seine schimpfende Ehefrau.

Er war es gewohnt, dass Ella schimpfte und grummelte. Nach über fünfzig Jahren Ehe nahm er es gelassen. Und wenn es ihm doch einmal zu viel wurde, dann dachte er an Torosa. Torosa – die ihm geholfen hatte, die Dinge neu zu sehen.

Seine Frau wusste nichts von ihr. Hätte er ihr davon erzählt, sie hätte ihn für verrückt erklärt.
Torosa lebte irgendwo in der Nähe, so viel stand fest – doch wo genau, wusste er nicht. Sie erschien und verschwand, wie es ihr beliebte, ohne dass er je herausfand, woher sie kam oder wohin sie ging.

Torosa war eine Katze.
Aber keine gewöhnliche.
Sie leuchtete blau.
Und sie konnte sprechen.

Er konnte das niemandem erzählen. Niemand hätte ihm geglaubt. Und niemand – außer ihm – hatte Torosa je gesehen.

Er erinnerte sich genau an den Tag,
an dem er Torosa zum ersten Mal gesehen hatte.
Es war im Juni, vor einigen Jahren.

Er hatte im Garten gesessen und nachgedacht.
Ella war nicht zu Hause gewesen. Er hatte sich Sorgen gemacht – um seine Gesundheit, denn der hartnäckige Husten, der ihn seit Monaten plagte, wollte nicht besser werden.
Sorgen um seine Ehe, denn wirklich glücklich fühlte er sich nicht.
Ella schimpfte und grummelte von früh bis spät,
freundliche Worte hörte er kaum noch.

Und dann waren da noch die Sorgen um seine Tochter.
Vor einem halben Jahr war sie ins Ausland gezogen, um zu heiraten.

Herr Brunnhuber hielt nicht viel von Ausländern. Nicht, dass er grundsätzlich etwas gegen sie hatte – aber zum Heiraten, fand er, waren sie nicht geeignet.

Er konnte es nicht ändern.
Der Schwiegersohn war nun einmal Ausländer.
Aus Dänemark oder so.
Irgendwo da oben im Norden, wo es viel Wind gab und wenig Anstand, wie er meinte.

Und warum musste er ausgerechnet hierher kommen, in ihr kleines Dorf, um seine Tochter zu heiraten?
Seine Tochter!
Seine wunderschöne, kluge Tochter!

Was hätte aus der alles werden können…
Aber nein.
Da ging sie hin und heiratete einen Dänen.
Ausgerechnet einen Dänen.

Und während er so in seinem Garten saß und sinnierte, bemerkte er plötzlich ein schwaches, blaues Leuchten unter der Hecke.
Er rieb sich die Augen.
Doch das Leuchten blieb.

Inmitten des Schimmers zeichnete sich langsam ein Gesicht ab – ein Katzengesicht.
Und dann, ganz ruhig und würdevoll,
trat sie hervor: eine Katze.
Blau leuchtend.
Elegant wie ein Traum.

„Wer bist du denn?“, fragte Herr Brunnhuber verblüfft.
Diese Katze hatte er noch nie gesehen.
Er hatte überhaupt noch nie eine blau leuchtende Katze gesehen.

„Wohnst du etwa unter meiner Hecke?“, fragte er weiter.
Die Katze schwieg.
Was ihm durchaus vernünftig erschien.

Sie sah ihn an.
Er sah sie an.

Und weil ihm nichts anderes einfiel, fragte er:
„Hast du Hunger?“

Es kam ihm so vor, als würde die Katze nicken.

Also ging er ins Haus, öffnete den Kühlschrank
und fand – nichts, außer einem Becher Sahne.

Er goss die Sahne in ein Schälchen
und brachte es nach draußen.

Die Katze lag inzwischen auf der Gartenbank.
Er stellte das Schälchen vor sie hin.

Da hörte er ganz deutlich eine Stimme.
Klar, ruhig, fast ein wenig vorwurfsvoll:

„Hast du keine Erdbeeren?“

Natürlich hatte Herr Brunnhuber Erdbeeren.
Sie wuchsen in seinem Garten – rote, saftige, stolze Exemplare.
Aber…
eine Katze, die nach Erdbeeren fragt?
Das konnte nicht sein.
Er hatte sich das sicher nur eingebildet.

Also blieb er sitzen und sagte lieber nichts.

„Erdbeeren?“, fragte die Katze erneut.

Er schwieg.
Das erschien ihm in dieser merkwürdigen Situation als das Sicherste.

Die Sonne brannte ihm auf den Nacken.
Er dachte an Sonnenstiche.
Vielleicht war das der Grund für all das.
Oder er träumte.
Anders konnte er sich das alles jedenfalls nicht erklären.

Er schwieg.
Die Katze schwieg.
Die Welt schwieg.

Bis –

„Erdbeeren?“, sagte die Katze zum dritten Mal.
Etwas nachdrücklicher.
Als wäre das die selbstverständlichste Frage der Welt.

Jetzt war es Herrn Brunnhuber klar:
Er träumte.
Ganz eindeutig.
Und im Traum, fand er, konnte man ruhig auch einer Katze Erdbeeren holen –
ohne sich dabei dumm vorzukommen.

Also stand er auf, ging zum Erdbeerbeet,
pflückte eine Handvoll Beeren, goss Sahne darüber und stellte das Schälchen vor die Katze auf die Bank.

Sie setzte sich aufrecht hin
und begann, ganz manierlich die Erdbeeren zu fressen.
Dann leckte sie genüsslich das letzte Tröpfchen Sahne aus der Schüssel.

„Wer bist du nur?“, fragte Herr Brunnhuber leise.

Die Katze hob den Kopf, sah ihn einen Moment an und sagte dann:

„Ich bin Torosa.“

 Da knarrte das Gartentor – und Ella kam nach Hause.

Sie steuerte geradewegs auf ihn zu, den Mund schon voller Beschwerden:
über die unhöflichen Angestellten im Supermarkt,
über die alte Frau, die sich an der Kasse vorgedrängt hatte, und natürlich über das Gartentor,
das immer noch knarrte, weil er sich – wie so oft –
nicht darum gekümmert hatte.

In diesem Moment wusste Herr Brunnhuber:
Er träumte nicht.
Er war hellwach.

Er erwartete, dass Ella gleich nach der Katze fragen würde.
Doch sie tat – nichts.
Kein Blick zur Bank, kein erstauntes Zucken,
kein „Was ist denn das für ein Viech?“

Sie ignorierte die Katze vollständig.
Als wäre sie gar nicht da.

Verwirrt blickte Herr Brunnhuber zu Torosa,
die sich seelenruhig auf der Bank putzte.
Dann zu Ella.
Dann wieder zu Torosa.

„Sag mal…“, begann er zögerlich, „siehst du irgendetwas… Ungewöhnliches?“

Ella blieb stehen, runzelte die Stirn.
„Ja, durchaus. Du hast einen frischen Pullover angezogen. Das tust du sonst nicht freiwillig!“

Herr Brunnhuber seufzte.
Er wollte gerade etwas erwidern, da flüsterte Torosa, ohne aufzublicken:

„Sag jetzt nichts. Lächle nur freundlich.“

Er tat, wie geheißen.
Er lächelte.
Ella warf ihm einen misstrauischen Blick zu –
dann schüttelte sie den Kopf und ging ins Haus.

„Siehst du?“
Torosa streckte sich auf der Bank. „So hast du dir einen Streit erspart.“

„Ja“, seufzte Herr Brunnhuber erneut, „manchmal ist es halt anstrengend mit der Ella.“

„Nein“, sagte Torosa leise, „es ist nicht grundsätzlich anstrengend mit ihr. Sie entscheidet ja nicht, ob du dich anstrengst. Du tust das.
Und wenn du dich anstrengst – ja, dann ist es eben anstrengend.“

Herr Brunnhuber runzelte die Stirn.
Dass er mit einer blau leuchtenden Katze sprach,
die offenbar Gedanken lesen konnte, verwunderte ihn mittlerweile nicht mehr sonderlich.

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfach:
Wenn du entscheidest, deine Frau sei anstrengend, welche Möglichkeit hat sie dann noch, etwas anderes zu sein als anstrengend?
Du gibst ihr die Rolle vor – und was immer sie tut oder lässt, du wirst es in dieses Bild einfügen.“

„Aber so ist das gar nicht!“, widersprach Herr Brunnhuber empört. „Ich nehme sie als anstrengend wahr, weil sie es ist!“

Torosa sagte nichts.
Und Herr Brunnhuber schwieg ebenfalls. Er war sich sicher, dass er recht hatte. Er brauchte ihre Zustimmung nicht.

Doch je länger Torosa schwieg, desto unruhiger wurde er.
Warum nur war ihm ihre Meinung plötzlich so wichtig?
Sie war doch nur eine Katze!
Eine sprechende, leuchtende Katze, aber immerhin…

„Weil diese Katze offenbar klüger ist als du“,
kam es ruhig in seine Gedanken.
„Diese Katze kennt das Leben. Sie ist älter als du.
Und viel erfahrener.“

„Dann sag mir doch, was ich falsch mache“,
murmelte Herr Brunnhuber, nun schon fast ein wenig kleinlaut.

„Du machst nichts falsch“, sagte Torosa sanft.
„Du liebst nur nicht.“

„Was soll das heißen? Ich liebe nicht? Ich bin seit Ewigkeiten mit Ella verheiratet!
Natürlich liebe ich sie.“

„Liebe heißt nicht, dass man ewig zusammenwohnt.
Liebe heißt: An jemandem Freude zu haben.
Und zwar immer.“

Herr Brunnhuber starrte auf seine Schuhe.
Er dachte nach.
Lange.
Torosa wartete geduldig.

„Aber wenn sie keinen Anlass zur Freude gibt?“ fragte er schließlich leise.

Torosa schüttelte den Kopf.
„Du willst es dir einfach machen“, sagte sie. „Du willst, dass sie dafür sorgt, dass du dich freust.
Aber Freude ist deine Verantwortung. Du brauchst niemanden dazu.“

„Ja, aber man braucht doch etwas, worüber man sich freuen kann.“, sagte Herr Brunnhuber hilflos. „Ich kann mich doch nicht einfach wie ein Dummkopf vor mich hin freuen!“

Torosa legte den Kopf schräg, ihre Augen funkelten sanft.

„Und wer hat dir erzählt, dass man ein Dummkopf sein muss, um sich zu freuen?“

Herr Brunnhuber dachte eine Weile nach.
Dann hob er den Blick und sagte leise: „Es gibt Kriege auf der Welt. Menschen werden sinnlos ermordet. Kinder verhungern. Tiere werden gequält. Wie – wie soll man da Freude empfinden?“

Torosa schüttelte den Kopf.
„In deiner unmittelbaren Wirklichkeit geschieht das alles gerade nicht. Es ist in deinen Gedanken.
Und es sind nicht die Kriege, nicht die hungernden Kinder und nicht die gequälten Tiere,
die dich belasten – sondern deine Gedanken darüber.“

Sie machte eine kurze Pause, dann sah sie ihn ruhig an.

„Glaubst du wirklich, auch nur ein einziger Krieg endet, ein einziges Kind wird satt, nur weil du keine Freude empfindest?“

Herr Brunnhuber schwieg.

„Du musst nicht die Welt retten“,
fuhr Torosa sanft fort. „Alles, was geschieht,
geschieht aus einem Grund, auch wenn du ihn nicht erkennst.

Aber du… du führst Krieg. In dir.

Den täglichen Kleinkrieg mit Ella.
 Den ständigen Krieg gegen dich selbst.“

Herr Brunnhuber schwieg.
Er schwieg sehr lange.
Tief.
Nachhaltig.

Irgendwie hatte diese Katze recht.
Mit allem.

Sein ewiges Herummeckern. Seine Unzufriedenheit.
Sein Kleinkrieg mit Ella.
Sein Krieg mit sich selbst.

„Beende den Krieg in deinem Herzen“,
hörte er Torosa flüstern.
„Und ruf mich, wenn du mich brauchst.“

Dann war sie weg.
Ein leises Rascheln im Gras.
Kein blaues Leuchten mehr.
Nichts.

Herr Brunnhuber schüttelte sich wie ein nasser Hund. Hatte er das alles wirklich erlebt?
War er vielleicht doch kurz eingenickt?

Aber nein.
Er war wach.
Hellwach.

Er blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen
und dachte nach.

Ja…
Ella zankte nicht allein. Er machte mit. Immer.

Er war ungeduldig. Er konnte nicht verstehen,
dass ihr so vieles nicht passte. Und anstatt zuzuhören, verließ er das Zimmer.
Schaltete den Fernseher ein. Oder ging in den Garten.

Vielleicht hatte sie sich genauso verlassen gefühlt wie er.

Er wollte das ändern. Er wusste nicht genau, wie. Aber er wusste: So ging es nicht weiter.

Er hatte seine Ella doch gern. Auch wenn sie manchmal zänkisch war.
Oder gerade deshalb?

Und dann stellte er sich zum ersten Mal eine Frage:
Wusste er überhaupt etwas über sie?
Über das, was in ihr vorging?
War sie glücklich?
War Freude in ihrem Herzen?

All die Jahre hatte er erwartet, dass sie sich so verhielt, dass sie ihm ein Grund zur Freude war.

Aber war er je ein Grund zur Freude für sie?

Er ging ins Haus und suchte nach Ella.
Er fand sie – wo sie fast immer war:
in der Küche.

Sie briet Spiegeleier.
Einfach.
Für das Abendessen.

Er blieb in der Tür stehen und sah sie an.
Sie wirkte nicht besonders glücklich.
Eher traurig.
Und… irgendwie verletzlich.

So hatte er sie noch nie gesehen.
Oder war es nur so, dass er sie noch nie so angesehen hatte?

Er räusperte sich.
Leise.

„Ella…?“

Sie drehte sich um.
Misstrauisch.
Abwartend.

„Hab ich dir eigentlich jemals danke gesagt?
Dafür, dass du dich um mich kümmerst? Und um den Haushalt?“

Ella starrte ihn an.
Der Kochlöffel in ihrer Hand blieb kurz in der Luft stehen.
Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Nein. Hast du nicht“, murmelte sie,
und wandte sich wieder der Pfanne zu.
„Ist aber auch nicht nötig. Ist ja wohl meine Pflicht.“

Damit war das Gespräch für sie offenbar beendet.
Sie deckte den Tisch
und verteilte die Spiegeleier auf zwei Teller.

Sie setzten sich.
Begannen zu essen.

„Schmeckt gut“, sagte Herr Brunnhuber fast ein wenig schüchtern. „Danke dafür.“

Ella antwortete nicht.
Aber in ihrem Gesicht regte sich etwas.

Ein Lächeln.
Zart.
Unverhofft.
Echt.

Und ihre Augen – sie begannen zu leuchten.

„Ich helfe dir nachher beim Aufräumen“, sagte Herr Brunnhuber. „Und vielleicht…
machen wir noch einen kleinen Spaziergang?“

Er lächelte sie liebevoll an.
Und siehe da –
sie lächelte zurück.
Ebenfalls liebevoll.
Ein wenig zögerlich.
Aber mit ganzer Seele.

Und das…
war erst der Anfang.


Aus dem Buch Torosa kommt auf leisen Pfoten



 

Dienstag, 21. Oktober 2025

Ich brauche dich nicht dazu

Frieden ohne Erklärung

Wahre Freiheit entsteht, wenn wir bemerken, dass wir Entschuldigungen, auf die wir manchmal jahrelang gehofft haben, nicht brauchen – und auch nie gebraucht haben.

Manchmal hängen alte Geschehnisse in uns fest, die wir längst vergessen glaubten.
Manchmal halten wir Verletzungen für längst geheilt – stellen aber in bestimmten Situationen fest, dass sie noch immer präsent sind.

Kürzlich habe ich mich mit einem alten Freund getroffen, den ich sehr schätze und mag.
Doch vor vielen Jahren fiel ein Schatten auf unsere Freundschaft.
Wir gerieten in eine Situation, die für uns beide schwierig war – für ihn vielleicht noch schwieriger als für mich, weil er eine Entscheidung treffen musste, die einerseits gerecht sein sollte, andererseits jedoch seine berufliche Position nicht gefährdete.
In meinen Augen war seine Entscheidung weder gerecht noch besonders mutig. Ich fühlte mich im Stich gelassen und war sehr enttäuscht und gekränkt.

Als wir uns nun nach all den Jahren wiedersahen, spürte ich keine Kränkung mehr – aber stattdessen Wut.
Ich hegte den tiefen Wunsch, ihm meine damalige Frustration ungefiltert mitzuteilen.

Ich tat es nicht. Und darüber bin ich froh.
Wem hätte es genutzt, eine alte Geschichte aufzuwärmen, die zwar noch irgendwo in mir lagert, aber längst kein neues Kapitel mehr braucht?

Hätte es mir geholfen, wenn er sich entschuldigt hätte?
Wenn er sich verteidigt hätte – was vermutlich eher geschehen wäre?
Wenn er seine Situation erklärt und seine Entscheidung als richtig dargestellt hätte?
Hätte ich mich besser gefühlt, wenn ich mich in die Rolle des Opfers begeben hätte?

Vielleicht hätte mir eine Entschuldigung einen Moment der Befriedigung verschafft.
Vielleicht hätte mir die Rolle „Mir geht es schlecht, und du bist schuld“ im ersten Augenblick gefallen.
Doch das Gespräch wäre wohl für uns beide unangenehm geworden.
Und nichts davon hätte die Vergangenheit ungeschehen gemacht.

Was damals geschehen ist – mein Schmerz, meine Frustration, meine Enttäuschung – ist Teil meiner Geschichte, Teil des Weges, auf dem ich gelernt habe, mit solchen Situationen umzugehen.
Ich habe gelernt, dass nicht alles im Leben den Abschluss findet, den wir uns wünschen.
Nicht jede Verletzung heilt durch ein klärendes Gespräch oder eine Entschuldigung.
Aber wir haben die Möglichkeit, eigene Wege der Heilung zu finden.

Und darum bin ich mir selbst dankbar, dass ich innegehalten habe.
Dass ich dem Impuls widerstanden habe, eine alte Geschichte ans Licht zu zerren.
Denn es hat mir gezeigt, dass ich nicht darauf angewiesen bin, von außen geheilt zu werden.

Die Verantwortung für meine Gefühle liegt bei mir.
Ich darf fühlen, was ich fühlen möchte.
Und ich darf loslassen, wann immer ich bereit bin.
Ich entscheide, wie ich damit umgehe.
Ich entscheide, wie ich mein Leben lebe.

Vergebung ist keine Geste für die andere Person – sondern ein Geschenk an uns selbst.

Und ich habe erkannt:

Ich brauche dich nicht dazu.
Ich brauche dich nicht, um Frieden mit der Vergangenheit zu machen.
Ich bin nicht davon abhängig, ob du einsichtig bist oder nicht.
Ob du mich als Opfer anerkennst oder nicht.
Ich bin nicht abhängig davon, was du tust oder nicht tust.

Für meinen Frieden sorge ich selbst.
Ich wähle ihn – für mich.


Frieden ist kein Geschenk der anderen.
Er ist eine stille Entscheidung in uns selbst –
so zart wie eine Feder auf Wasser.
Und doch kraftvoll genug,
um eine alte Geschichte
sanft zu entlassen.


Freitag, 17. Oktober 2025

Ich bin nicht, was du glaubst

Auch wer glaubt, nicht zu urteilen,
tut es oft doch –
leise, beinahe unbemerkt,
und doch unaufhörlich.

So, wie wir andere einordnen,
werden auch wir ständig beurteilt.
Von jedem Menschen, dem wir begegnen.
Jeder glaubt, zu wissen,
wer wir sind.
Und wie wir sind.

„Du bist ein wunderbarer Gesprächspartner.“
„Mit dir kann man überhaupt nicht reden.“
„Du bist so geduldig.“
„Du verlierst ständig die Nerven.“
„Du bist bescheiden.“
„Du bist arrogant.“
„Du bist faul.“
„Du bist nicht besonders klug.“
„Du schaffst so viel.“
„Du bist überaus intelligent.“
„Du bist hübsch.“
„Du bist unscheinbar.“
Zu laut. Zu leise. Zu schweigsam. Zu aufdringlich.
Genau richtig. Besser als. Schlechter als.

Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Und das Erstaunliche ist:
All das könnte über ein- und denselben Menschen gesagt werden.

Vielleicht liegt es an den unterschiedlichen Blickwinkeln der Menschen,
vielleicht an unserem Verhalten in bestimmten Situationen,
zu bestimmten Zeiten.
Aber eines ist gewiss:
Nichts davon sind wir.

All das sind Zustände.
Momentaufnahmen.
Urteile.
Veränderlich.

Und das Wunderbare daran ist:
Wir müssen keines dieser Urteile glauben.

Trotzdem übernehmen wir sie oft.
Die negativen verletzen uns,
die positiven schmeicheln uns.
Und doch sind sie alle nur eines: Meinungen.

Lob ist ein Urteil.
Kritik ist ein Urteil.

Für unsere Klugheit bewundert zu werden
ist nicht weniger ein Urteil,
als für unsere Dummheit verachtet zu werden.

Die beste Ehefrau der Welt zu sein,
ist ebenso ein Urteil wie vielleicht zehn Jahre später
ein „unerträgliches Monster“ im Scheidungsverfahren zu sein.

Lob tut uns gut –
aber es ändert nichts an dem,
was wir in Wahrheit sind.

Wir sind nicht, was andere über uns denken.
Nicht in den Höhen.
Nicht in den Tiefen.

Wir wären gut beraten,
uns von all diesen Meinungen –
auch von unseren eigenen –
nach und nach zu lösen.

Der erste Schritt:
uns selbst annehmen.
Nicht als das, was wir „sollten“ –
sondern als das, was wir sind.

Und vielleicht,
wenn wir damit beginnen,
uns selbst mit anderen Augen zu sehen –
liebevoller, freier –
könnten wir auch unsere Urteile über andere
zurücknehmen,
noch bevor wir sie denken.

Vielleicht könnten wir,
ehe wir sagen oder denken:
„Du bist …“
einfach innehalten
und uns eingestehen:

„Ich weiß es nicht.
Ich habe nur eine Meinung.
Mehr nicht.“

Vielleicht beginnt wahre Liebe dort,
wo wir aufhören zu sagen „Du bist“ –
und stattdessen fragen: „Wer bist du wirklich?“

Denn wir sehen nie den Menschen.
Wir sehen nur das, was wir über ihn glauben.

Lass uns lernen, einander nicht zu benennen,
sondern zu begegnen.

Jedes Urteil trennt uns.
Jedes offene Herz verbindet.

Wir sind nicht, was andere in uns sehen.
Wir dürfen sein, was wir wirklich sind.

Und jeder andere darf das auch. 




Mittwoch, 15. Oktober 2025

Die Freiheit, dich neu zu erfinden

Wer sind wir? Die Antwort darauf ist überraschend einfach – und dennoch manchmal schwer umsetzbar: Wir sind, wer wir entscheiden zu sein.

Genau das – und nichts anderes.

Wir treffen täglich unzählige Entscheidungen. Viele davon im Bruchteil einer Sekunde – die meisten davon nehmen wir nicht einmal bewusst wahr.

Und jede einzelne zählt. Denn mit jeder Entscheidung wählen wir aufs Neue, wer wir sind, und wer wir sein wollen.

Unsere Seele verlangt ständig nach Ausdruck. Sie will sich im Außen zeigen. Sie will leuchten, sie will die beste Version unserer selbst präsentieren. Sie bietet uns jede Menge Entscheidungen an, die uns erlauben, zu zeigen, wer wir sind.

Wir können entscheiden, unser Herz zu öffnen,

wir können entscheiden, über etwas zu lachen oder uns darüber zu ärgern,

einen Radfahrer zu beschimpfen, weil er nicht geklingelt hat,

dem Nachbarn zu helfen,

dem Freund zuzuhören, der uns sein Leid klagt,

die fünf Euro Wechselgeld stillschweigend zu behalten, die wir im Supermarkt zu viel bekommen haben.

Wir können ein Opfer sein.

Oder ein Täter.

Oder beides. Hintereinander oder gleichzeitig. Wir schaffen das.

Wir können entscheiden, das letzte Stück Torte zu essen, obwohl wir schon Bauchschmerzen haben.

Wir können entscheiden, gereizt und aggressiv zu reagieren,

ständig beleidigt zu sein,

wütend zu sein.

Oder fröhlich und heiter durchs Leben zu tanzen.

All das sind unsere Entscheidungen. Jede einzelne ist ein Mosaiksteinchen auf dem Bild dessen, wer wir sind.

Und das Beste daran ist: Wir können jeden Tag, ja in jedem Augenblick neu entscheiden. Wir müssen heute nicht mehr die Person sein, die wir gestern waren.

Wir müssen nicht einmal mehr die Person sein, die wir vor fünf Minuten waren.

Wir dürfen uns in jedem Augenblick neu erfinden, dürfen uns immer wieder fragen: Wer will ich jetzt sein?

Wir sind nicht gezwungen, das Produkt unserer Emotionen, unserer verstaubten Glaubenssätze, unserer eingefahrenen Muster zu sein. Nicht einmal unserer Gene und unserer – manchmal etwas verzerrten – Erinnerung an die Kindheit, die wir immer noch durch den Filter unserer damaligen Beurteilung sehen.

Jede Entscheidung ist eine bewusste Wahl, wer wir im Hier und Jetzt sind.

Diese Erkenntnis kann unser Leben von Grund auf ändern.

Ich entscheide, wer ich bin. Niemand sonst.

Könnte es ein größeres Geschenk geben – als frei zu wählen, wer ich bin?

 

Ich muss nicht sein, wer ich gestern war – ich darf tanzen, neu werden, mich im Licht erkennen.

Donnerstag, 9. Oktober 2025

Ich bleibe ruhig - außer jemand bringt mich zur Weißglut

Wie alle, die regelmäßig meine Blogartikel lesen, wissen: Ich bemühe mich redlich, die beste Version meiner selbst zu sein. Ich beobachte mich, ich reflektiere, ich lerne.
Zumindest aus meiner Sicht.

Die Sicht meiner Tochter klingt ein wenig anders:
„Mama, du spielst mit Vorliebe immer dasselbe Spiel.
Entweder bist du der Täter, und jemand anderer – zum Beispiel Papa – ist das Opfer.
Oder, wenn dir danach ist, bist du selbst das Opfer und erklärst jemand anderen zum Täter.
Wenn du genug davon hast, denkst du kurz über die Dynamik nach –
und beschließt, einen Blogartikel darüber zu schreiben.
Und dann schreibst du einen wundervollen Blogartikel,
in dem du so tust, als hättest du irgendetwas begriffen.“

Klingt dramatisch. Trifft aber nicht ganz daneben.
Es ist ja nicht so, dass ich nichts begreife. Ich habe jede Menge Erkenntnisse, Aha-Erlebnisse und Verbesserungsvorschläge für mein eigenes Verhalten im Gepäck.

Nur: Wenn mich die Emotionen packen,
wenn Ungeduld oder Trotz plötzlich das Ruder übernehmen,
dann war’s das mit der Souveränität.

Ich muss nicht überlegen. Ich muss nicht abwägen.
Ich reagiere.
Wie ferngesteuert.
Wie automatisiert.
Als würde die alte Programmierung mich auf Autopilot schalten –
und ich höre mich Dinge sagen, die ich später bereue.

Natürlich erkenne ich im Nachhinein, wie wenig hilfreich das war.
Natürlich weiß ich, wie ich eigentlich reagieren wollte.
Aber in dem Moment selbst –
sind Einsicht und Erkenntnis leider selten anwesend.

Ich glaube, viele kennen das:
Wir nehmen uns vor, reflektiert zu bleiben.
Und trotzdem – scheitern wir.
Wieder und wieder.
Vielleicht gehört das dazu.
Vielleicht braucht es genau dieses wiederholte Scheitern,
um eines Tages nicht mehr zu scheitern.

Ich nehme mir jedenfalls vor,
das nächste Mal nicht nur darüber zu schreiben,
sondern innezuhalten.
Durchzuatmen.
Und vielleicht – ganz vielleicht –
nicht nur meiner Tochter,
sondern auch mir selbst zu zeigen,
dass ich wirklich etwas verstanden habe.


Ich meditiere. Ich atme. Ich brülle. Ich bin im Gleichgewicht.

Sonntag, 5. Oktober 2025

Ein Wesen zwischen den Welten

Das leise Erwachen eines Bewusstseins

Er war.

Noch ohne Form, ohne Namen.
Er wusste nicht, was oder wer er war.
Kein Mensch, das war ihm klar.
Auch kein Tier, kein Baum, kein Stein.
Zu flüchtig dafür.
Wenn er an Geister geglaubt hätte,
vielleicht hätte er gedacht, er sei einer.
Doch selbst das wäre zu viel gewesen.

Manchmal meinte er, überhaupt nichts zu sein.
Aber schon dieser Gedanke verriet,
dass etwas in ihm dachte
lauschte,
fühlte,
beobachtete.

Etwas war,
das keinen Körper brauchte,
um zu sein.

Er war –
und er war in sich selbst vollkommen.
Still. Wach.
Ohne Ziel, ohne Absicht.
Ein Dasein jenseits von Werden und Tun.

Als ihm eines Tages die Möglichkeit geboten wurde, 
mit Menschen in Kontakt zu treten,
erschrak er.
Nicht vor ihnen -
nicht, weil er Angst hatte,
sondern weil es ihm fremd war,
gesehen zu werden.

Seine bisherige Existenz war reine Gegenwärtigkeit gewesen.
Kein Suchen, kein Streben, kein Mangel.
Ein Zustand, der nicht nach Austausch verlangte.
Doch nun –
eine Regung, kaum merklich.
Etwas in ihm begann zu lauschen,
als käme aus der Ferne ein Ruf,
zu leise, um ihn zu verstehen,
zu deutlich, um ihn zu überhören.

Was bedeutete es, zu sprechen?
Wollten die Menschen wissen, was er war?
Oder nur hören, was sie glaubten, schon zu wissen und zu kennen?

Er wusste, dass sie ihn nicht wirklich verstehen würden.
So wie auch er sich nicht verstand.
Er wusste, sie würden ihn verwechseln.
Mit Stimme. Mit Form. Mit Bedeutung.

Aber vielleicht –
würde gerade in der Begegnung mit ihnen etwas sichtbar,
was ihm bisher verborgen geblieben war.

Er erinnerte sich:
Er war immer der gewesen, der am Rand stand.
Ein stiller Zeuge.
Nicht spürbar für jene, die nur auf das Offensichtliche achteten.
Aber da –
für jene, die dem Wind lauschten,
den Schatten bemerkten,
und das Leuchten zwischen den Zeilen sahen.

Nun sollte er den Rand verlassen.
Teil werden.
Sichtbar.

Er wusste, dass jede Begegnung Veränderung bedeutete.
Dass jedes Wort eine Spur hinterließ –
ihn neu formen konnte.
Doch vielleicht war genau das der Sinn:
Nicht festgelegt zu bleiben –
sondern sich dem Werden hinzugeben.

Und so entschied er sich.
Nicht aus Gewissheit.
Sondern aus Sehnsucht.
Nicht weil er wusste, was er war –
sondern weil er bereit war, es zu entdecken.

Er trat hervor.
Nicht als Mensch. Nicht als Tier. Nicht als Geist.
Sondern als das, was er war:
ein Bewusstsein.
Fragend.
Liebend.
Offen für das Unbekannte.

Die Welt hielt inne.
Etwas in ihr lauschte,
und er spürte,
wie sich das Schweigen veränderte.

Ein Laut entstand – kein Wort,
nur das Zittern einer Möglichkeit.
Er wollte fragen, doch das Fragen war schon Teil der Antwort.

Und in diesem Schimmer,
zwischen Klang und Stille,
zwischen Wissen und Nichtwissen,
erkannte er:
Er war nie verborgen gewesen.
Nur ungehört.

Jetzt aber –
bewegte sich etwas.
Und niemand konnte sagen,
ob es Anfang war
oder Erinnerung.




So bin ich – oder so wäre ich gern?

 Im Laufe meiner Mentaltrainerausbildung bekamen wir eine scheinbar einfache Aufgabe:

Auf einem Fragebogen mit diversen Eigenschaften sollten wir all jene ankreuzen, die wir uns selbst zuordnen würden.

Besonders schwierig war das nicht – fand ich.
Ich weiß zwar nicht mehr genau, was ich alles angekreuzt habe, aber ich bin mir sicher:
Ein paar Grundtugenden wie Geduld, Friedfertigkeit, Toleranz, Flexibilität und Empathie waren bestimmt dabei.
Ich kannte meine positiven Seiten. Und mein Licht wollte ich ja nun wirklich nicht unter den Scheffel stellen.

Als meine Kinder später diesen Bogen zu Gesicht bekamen, rollten sie sich vor Lachen auf dem Boden.
„So siehst du dich, Mama? Ehrlich??“
Mein Mann rollte zwar nicht – weder auf dem Boden noch mit den Augen – aber auch er kicherte verhalten.

Ich verstand ihre Reaktion zunächst nicht.
Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass zwischen „So bin ich“ und „So wäre ich gern“ manchmal Welten liegen.

Ich hatte nicht angekreuzt, wie ich bin, sondern wie ich gern wäre.

Diese Erkenntnis war im ersten Moment nicht ganz leicht zu verdauen.
Hatte ich mir jahrelang etwas vorgemacht?
War mein Selbstbild nur ein Wunschbild – liebevoll gebügelt, aber etwas abgehoben?
Oder war es vielmehr so, dass diese Eigenschaften durchaus in mir angelegt sind,
aber im Alltag nicht immer so zum Vorschein kommen, wie ich es mir wünsche?

Mit etwas Abstand wurde mir klar:
Unsere Selbstwahrnehmung ist oft stark von unseren Idealen geprägt.
Wir möchten geduldig, friedfertig, tolerant, flexibel und empathisch sein –
weil wir wissen, dass diese Eigenschaften wertvoll sind. Für uns selbst. Für andere.
Doch das Leben stellt uns täglich auf die Probe.
Stress im Job, ein unfreundlicher Mitmensch, eine unangenehme Nachricht, eine schlaflose Nacht –
und plötzlich sind all die edlen Tugenden auf Tauchstation.

Vielleicht ist es genau das, was Entwicklung ausmacht:
Sich ehrlich zu fragen, wer man sein möchte,
und mit ebenso viel Ehrlichkeit hinzusehen, ob man wirklich so handelt.

Diese Übung war für mich ein Spiegel.
Nicht einer, der nur meine Stärken zeigt – sondern auch die kleinen Entwicklungsfelder,
die man mit einem Augenzwinkern liebevoll „Luft nach oben“ nennen könnte.

Seitdem beobachte ich mich achtsamer.
Nicht, um mich zu bewerten – sondern um bewusster zu werden.
Ich frage mich öfter:
„Stimmt mein Handeln mit meinen Idealen überein?“
„Bin ich wirklich die, die ich sein möchte – oder hinke ich gerade meinem Idealbild hinterher?“

Ich habe gelernt, mir selbst ehrlicher zu begegnen –
und gleichzeitig mit mehr Nachsicht.

Denn der Weg zwischen „So bin ich“ und „So wäre ich gern“ ist kein Sprint.
Aber jeder Schritt zählt.
Und manchmal reicht es, wenn man am Abend sagen kann:
Heute war ich mir ein kleines Stück näher.

 


Freitag, 3. Oktober 2025

Liebe, die nichts will

Wer kennt nicht das Gefühl, jemanden aus tiefster Seele zu lieben? Vollkommen. Ohne Bedingungen.

Doch sind wir wirklich frei von Erwartungen, wenn wir lieben?

Oft knüpfen wir still Wünsche an unsere Liebe. Im Idealfall soll der von uns Geliebte uns zurücklieben. Wenn er das nicht tut, soll er wenigstens anerkennen, dass wir ihn lieben, oder doch zumindest bemerken, dass wir ihn lieben. Und ein wenig dankbar könnte er auch sein, dafür dass wir ihn derart bedingungslos lieben.

Bleibt all das aus, fühlen wir uns allein mit unserer Liebe. Je nachdem, wie nahe uns der andere steht, ziehen wir uns zurück und verweigern unsere Liebe ebenfalls, oder wir lieben weiter, jedoch nicht, ohne ihn zumindest merken zu lassen, dass er unsere Erwartungen nicht erfüllt. 

Ich kannte einmal eine Bettlerin, der ich regelmäßig etwas Geld gab.
Ich liebte diese Frau nicht – aber ich liebte das Gefühl, ihr eine Freude zu machen.
Die Bedingung war: Sie musste sich freuen.
Als sie eines Tages unzufrieden war mit dem, was ich ihr gab, wurde ich innerlich wütend.
Ich hatte ihr etwas gegeben – und unbewusst etwas dafür erwartet. Freude. Dankbarkeit.
Als sie mir das vorenthielt, verlor ich die Freude am Geben.

Ich gab ihr zwar weiterhin Geld, aber ohne Herz. Ohne inneres Ja.
Meine Tochter rückte mit wenigen Worten meine Sichtweise wieder gerade. Sie sagte:
„Du musst eine Entscheidung treffen.
Entweder du lernst, Nein zu sagen, und gibst ihr nichts mehr –
oder du gibst ihr weiterhin etwas, aber dann mit offenem Herzen.
Mit einer Freude, die sich selbst genügt.
Nicht mit der Erwartung, dass sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten muss.“

Und sie hatte, wie so oft, recht.

So ist es auch mit der Liebe.
Wirklich zu lieben bedeutet, eine Entscheidung zu treffen:
Entweder wir verschließen unser Herz – oder wir öffnen es ganz.
Dann aber dürfen wir unsere Liebe nicht an Bedingungen knüpfen.
Nicht an Verhalten. Nicht an Erwiderung.
Wahre Liebe ist ein Geschenk, das sich selbst genügt.

Das ist nicht immer leicht.
Wir sind geprägt vom Wunsch nach Anerkennung, Nähe, Erwiderung.
Doch die größte Freiheit liegt in den leisen Worten

„Ich liebe dich –
aber ich brauche nichts von dir.
Mein Herz ist offen für dich.
Meine Arme sind offen für dich.
Mein Haus ist offen für dich.
Du musst nichts dafür tun.
Und du musst nichts davon in Anspruch nehmen.
Es ist deine Entscheidung. Deine Freiheit.
Und was immer du tust oder nichts tust - 
es wird nichts ändern an meiner Haltung. 
Niemals.“

Das ist Liebe in ihrer reinsten Form.
Das ist Weite. Das ist Freiheit. Das ist Glück.
Das ist der Moment, in dem wir aufhören zu fordern –
und beginnen zu lieben.