Gedanken über Individualität und Selbstwahrnehmung
Es scheint ein tiefes Bedürfnis vieler Menschen zu sein, sich von anderen abzuheben.
Anders zu sein – anders als „die Masse“. Und oft bedeutet „anders“ dabei vor allem: besser.
Ich kannte einmal eine Frau. Sie war klug, interessant, sehr hübsch – und ihr Kleidungsstil war außergewöhnlich. Er passte hervorragend zu ihr. Ich mochte sie.
Auf Facebook postete sie viele Fotos von sich, in oft sehr kreativer Kleidung. Und sie erntete viel Bewunderung – auch von mir.
Doch dann kam der Moment, der mich innehalten ließ.
Jemand bewunderte ihren Stil, und sie antwortete:
„Ja, ich bin eben nicht wie die Masse.“
Wäre es mir wichtig genug gewesen, hätte ich vielleicht gefragt:
„Wer ist denn diese Masse? Sind wir alle die Masse – und nur du bist kein Teil davon? Oder wie ist das gemeint?“
Aber ich fragte nicht. Ich löschte sie.
Denn kaum etwas macht einen Menschen für mich unglaubwürdiger als die Behauptung, er sei kein Teil der Masse.
Der Glaube, alle anderen seien „die Masse“, nur man selbst nicht, ist das verzerrte Spiegelbild echter Besonderheit.
Er zeigt, wie leicht aus dem Wunsch, gesehen zu werden, ein Bedürfnis wird, sich abzugrenzen –
und wie schnell aus einem „Ich bin besonders“ ein „Ich bin besser“ wird.
Mit einem einzigen Satz:
„Ich bin nicht wie die Masse.“
Und plötzlich verliert das Besondere seine Würde.
Denn um sich selbst zu erhöhen, muss man den Wert der anderen mindern.
Mit einem Satz wird vielen ihre Einzigartigkeit abgesprochen:
„Ihr seid die Masse – nur ich bin es nicht.“
„Ihr seid alle gleich – nur ich bin anders.“
„Es gibt zwei Sorten von Menschen: die Masse – und mich.“
Wieviel Überheblichkeit liegt in solchen Gedanken.
Und vielleicht – im Verborgenen – auch wieviel Verzweiflung.
Der Wunsch, anders zu sein, wird zum Rettungsanker für das Gefühl, nur dann von Wert zu sein, wenn man sich abhebt.
Doch vielleicht liegt wahre Besonderheit nicht im Anderssein –
sondern darin, das Gemeinsame anzuerkennen und die eigene Note darin hörbar zu machen.
Wir alle sind Teil der Masse.
Und jeder von uns trägt eine unverwechselbare Nuance in die große Melodie des Menschseins ein.
Erst das Zusammenspiel aller Stimmen macht das Lied vollständig.
Die Angst, im Alltäglichen zu verschwinden, verführt uns dazu, uns herauszulösen.
Aber vielleicht ist die mutigste Form der Individualität genau das:
sich als Teil des Ganzen zu erkennen –
und darin eine Größe zu entfalten, die nicht trennt, sondern verbindet.