Sonntag, 18. Dezember 2022

Frieden im Herzen

Franziska Freudensprung stand an ihrem Küchenfenster und blickte versonnen in den Garten. Es war noch früh am Abend – eigentlich noch Nachmittag – dennoch begann es bereits zu dunkeln. „In vier Tagen ist Weihnachten“, murmelte sie vor sich hin. Wieder mal Weihnachten. Zum fünften Mal feierte sie Weihnachten nun allein mit ihrem Papagei Fred. Zum fünften Mal ohne ihren Mann Gottlieb. Und noch immer wusste sie nicht, wohin Gottlieb verschwunden war, als er vor fünf Jahren an einem nebligen Novemberabend nur kurz um die Ecke gehen wollte, um die Zeitung zu kaufen.

Vor einer halben Stunde hatte es zu schneien begonnen und ihr Garten war bereits mit einer dünnen, weißen Decke überzogen. Franziska seufzte.  Manchmal legte sich die Einsamkeit so völlig über sie, wie die Schneedecke über ihren Garten und nahm ihr förmlich die Luft zum Atmen. Sie hatte keine Freunde und auch keine Familie. Abgesehen von ihrem Bruder Kuno. Aber den konnte sie leider nicht ausstehen.  Sie sprachen seit Jahren nicht mehr miteinander.

Doch in letzter Zeit musste sie öfter an ihn denken. Stundenlang saß sie in ihrem Schaukelstuhl, schaukelte vor sich hin, und dachte über die Vergangenheit nach. Sie war bereits zwölf Jahre alt gewesen, als Kuno geboren worden war. Sie hatte dieses Baby über alles geliebt. Sie hatte es gehegt und gepflegt, und als der kleine Bruder gelernt hatte, zu laufen, hatte sie ihn ständig mit sich herumgeschleppt und allen ihren Schulkameradinnen präsentiert. Sie war so unglaublich stolz auf diesen kleinen, blonden Jungen gewesen, der alle mit seinem Charme bezaubert hatte. Doch dann war Kuno an Kinderlähmung erkrankt. Und plötzlich war es, als gäbe es Franziska nicht mehr. Alle Aufmerksamkeit hatte sich dem kleinen Bruder zugewandt. Lange Zeit hatte er im Krankenhaus um sein Leben gekämpft. Und jahrelang hatte seine schwere Erkrankung ihm die nahezu ungeteilte Zuwendung der Eltern gesichert und Franziska in den Schatten gedrängt. Was für sie geblieben war, war die Mutter gewesen, die zehnmal am Tag rief: „Franziska, kannst du mir bitte helfen?“ und dafür einmal wöchentlich seufzend sagte: „Wenn ich dich nicht hätte...!“ Und dann ihr Vater, der ihr öfter über die Schulter oder den Kopf gestrichen und dazu gemurmelt hatte: „Ja, ja, meine Liebe.“ Und wenn sie es recht bedachte, bekam niemand mehr von ihm. Weder die Mutter noch der Bruder. Wenn er besonders gute Laune hatte, wurde ein schwungvolles Schulterklopfen daraus und dazu sagte er aus tiefster Überzeugung: „Vortrefflich, vortrefflich!“, wobei keiner genau wusste, was er damit meinte. Dennoch sah sie sich langsam und unaufhaltsam hinter der Pflegebedürftigkeit des kleinen Bruders verschwinden. Franziska war eifersüchtig.

Kuno wurde wieder gesund. Er lernte auch, wieder zu laufen, jedoch blieb in seinem linken Bein eine Schwäche zurück, die ihm für den Rest seines  Lebens einen hinkenden Gang bescherte. In die Familie kehrte wieder Normalität ein. Dennoch blieb Kuno der verwöhnte Liebling, und niemand bemerkte, wie  Franziska, die sich so sehr nach der Liebe der Eltern sehnte, auf die sie so lange hatte verzichten müssen, immer mehr und mehr in sich zurückzog.

Als Franziska 22 Jahre alt war, starben die Eltern im Abstand von wenigen Monaten und Franziska war plötzlich für ihren kleinen Bruder verantwortlich.  So versuchte sie eben, Kuno so gut wie möglich die Eltern zu ersetzen und ihn zu einem anständigen Menschen zu erziehen.

Anfangs war das noch einfach gewesen. Kuno war ein fröhliches Kind, und seine liebenswerte herzliche Wesensart machte es ihm leicht, Sympathien zu gewinnen. Franziska wäre gerne gewesen wie er – so unbesorgt und unbekümmert, so fröhlich und egoistisch. Doch die Verantwortung, für die sie eigentlich viel zu jung war, drückte schwer auf ihre Schultern, und die Fröhlichkeit war ihr schon vor langer Zeit abhandengekommen. Gerne hätte sie auch Freunde gehabt. Aber wie man Freundschaften schloss, hatte sie schon als Kind nicht so recht gewusst.

Kuno entwickelte sich zu einem verwöhnten und kapriziösen jungen Mann, der jegliches Spießertum verachtete. Franziska und die Welt, in der sie lebte, betrachtete er mit nachsichtiger, milder Geringschätzung. Er ließ sein Haar wachsen, und trug gerne bunte, auffallende Kleidung. Und obwohl Franziska gerne gesehen hätte, dass er einen soliden Beruf – wie Koch oder Bankbeamter ergriffen hätte, entschied er sich für eine Lehre als Reisebürokaufmann. Er sprach von fremden Ländern, von denen Franziska noch nicht einmal gehört hatte, und davon, dass er die Welt bereisen wollte. Er las viele kluge Bücher und benützte im Gespräch Wörter, die Franziska nicht verstand. Auch brachte er immer wieder Themen zur Sprache, von denen sie keine Ahnung hatte. Sie hatte niemals Zeit gehabt, sich mit Bildung zu beschäftigen. Franziska begann sich in seiner Gegenwart dumm, unzureichend und hilflos zu fühlen. Kunos überlegenes und immer etwas mitleidiges Lächeln konnte sie nicht mehr ertragen.

Letztendlich wurde Kuno erwachsen, jedoch verstehen konnten sie einander immer noch nicht. Kuno begann nun tatsächlich, als Reiseleiter die Welt zu bereisen. Sie sahen einander nur noch selten. Von irgendeiner seiner Reisen hatte er Fred mitgebracht. Da er jedoch selten zu Hause war, konnte er ihn nicht behalten und seither wohnte Fred bei ihr. Dafür würde sie ihm ewig dankbar sein, denn sie liebte diesen verrückten, lauten Papagei. Aber dass er allem, was sie ihm bieten konnte, den Rücken gekehrt hatte, um eine Welt zu bereisen, von der man nicht viel mehr wusste, als dass sie rund war, konnte sie ihm nicht verzeihen. Und irgendwann brach der Kontakt ab.

Sie war fast 45 Jahre alt gewesen, als sie Gottlieb kennengelernt und geheiratet hatte. Warum, das wusste sie nicht genau. Vermutlich einfach deshalb, weil er sie gefragt hatte, und ihr das Leben nicht viele Alternativen bot. Es war nicht die große, überschäumende Liebe gewesen, jedoch hatte sich mit der Zeit ein solides Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt. Auch ihre Eltern wären mit Gottlieb zufrieden gewesen, hätten sie noch gelebt. Ihr Vater einfach deshalb, weil Gottlieb Schach spielen konnte. Franziska sah es förmlich vor sich, wie ihr Vater Gottlieb mit einer Hand auf die Schulter klopfte und „vortrefflich, vortrefflich“ murmelte, während er mit der anderen Hand die Schachfiguren aufstellte. Und ihre Mutter hätte Gottlieb gemocht, weil er nicht nur ein erstklassiger Buchhalter war, sondern im Notfall auch betonieren konnte. Ihre Mutter pflegte zu sagen: „Und wenn einer noch so ein Lump ist, so lange er betonieren kann, ist nicht alles verloren.“  Nicht dass jemals jemand Gottlieb hätte betonieren sehen. Die Notwendigkeit dazu bestand auch nie. Aber das Bewusstsein, dass er es im Ernstfall konnte, vermittelte schon ein Gefühl der Sicherheit.

Bis Gottlieb in dieser Novembernacht vor fünf Jahren verschwunden war. Franziska war am Boden zerstört. Alles, alles hätte sie ihm verziehen, wäre er nur zurückgekommen. Keine Fragen hätte sie ihm gestellt, ihm keine Vorwürfe gemacht. Doch ihre anfängliche Sorge, ihre Verletztheit und ihr Schmerz hatten sich im Laufe der Zeit erst in hoffnungslose Trauer und danach in Groll und Unversöhnlichkeit verwandelt. Ihretwegen hätte er obdachlos im Park sitzen und erfrieren können. Sie war fertig mit ihm.

Kuno hingegen hatte nie geheiratet. Er war ein etwas sonderbarer Einzelgänger geworden und lebte in einem kleinen Haus am Stadtrand, nur zehn Minuten von Franziskas Elternhaus – in dem sie immer noch lebte - entfernt. Ganz konnte sie nicht verstehen, was aus ihrem schillernden, glänzenden Bruder geworden war. Und vor allem warum. Es mochte wohl sein, dass es einfach zu wenige Menschen gab, die seinen Ansprüchen genügten. Nicht jeder konnte Shakespeare zitieren und verstand Wörter, an denen selbst die Gelehrten im alten Rom noch zu knabbern gehabt hätten. Einen anderen Grund konnte sie sich nicht vorstellen.

Manchmal sah sie ihn aus der Ferne, wenn er, den Blick auf den Boden gerichtet und die Hände auf dem Rücken verschränkt, seinen täglichen Spaziergang absolvierte, seine seltsame bunte Strickmütze über die Ohren gezogen. Sie drehte jedes Mal den Kopf weg.

Doch in letzter Zeit schlich Kuno sich immer öfter in Franziskas Gedanken. Immer öfter dachte sie an den heiteren Jungen, der ihr kleiner Bruder gewesen war, und den sie so geliebt hatte.  Und an den einsamen Erwachsenen, der er geworden war. Aber den Mut, ihn einmal anzusprechen, wenn sie ihn sah, hatte sie nicht.

Auch an Gottlieb musste sie seit einigen Wochen häufig denken. Jahrelang hatte sie sich die Gedanken an ihn nicht erlaubt, sie im Keim erstickt. Doch immer weniger konnte sie die Erinnerung an ihn verdrängen, ihn immer weniger aus ihrem Kopf verbannen.

Das Schrillen der Türklingel riss sie unvermutet aus ihren Gedanken. Fred, der seinen Kopf unter den Flügel gesteckt hatte und vor sich hin gedöst hatte, schrak auf und grölte. „Frrrreudensprrrung!!“  „Das war nicht das Telefon, Blödmann. Das war die Türklingel“, brummte Franziska und schlurfte zur Tür. Umständlich legte sie die Sicherheitskette vor und drehte sie den Schlüssel im Schloss. Dann öffnete sie die Tür und spähte durch den Spalt nach draußen.  Draußen war es dunkel, sie konnte niemanden erkennen. „Ist da jemand?“, frage sie ärgerlich. Alles blieb still. Sie lauschte kurz in die Dunkelheit. Kein Ton war zu hören. Kopfschüttelnd wollte sie die Tür wieder schließen, da sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste.  Sie blieb stehen und linste durch den Türspalt nach draußen. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und sie konnte einen sonderbar gekleideten Jungen erkennen, der da stand und sie unverwandt ansah. Unter einer sonderbaren Zipfelmütze lugten schwarze, struppige Haare und spitze Ohren hervor. Er trug eine bunte Jacke und ebensolche Hosen. „Um alles in der Welt, wer bist du?“ flüsterte sie. Der Junge lachte hell.  „Was bedeutet das schon? Ich bin einfach der, der ich bin. Vielleicht ein Zauberer, vielleicht ein Weihnachtself, vielleicht der Osterhase. Vielleicht bin ich aber auch nur der, der kommt, wenn die Einsamkeit unerträglich wird. Aber was bedeutet es?“

Franziska runzelte verwirrt die Stirn. „Ich glaube, du bist hier falsch. Du hast dich sicher im Haus geirrt. Es ist besser, wenn du so schnell wie möglich wieder verschwindest.“ „Ob es besser ist, kannst du nicht wissen. Du kannst nur wissen, was du im Augenblick möchtest, aber nicht, was besser ist.“

Darauf fiel Franziska so schnell keine passende Antwort ein. Aber sie hatte auch keine Lust, mit diesem seltsamen Jungen vor ihrer Tür zu diskutieren. „Sieh zu, dass du wegkommst….“, wollte sie sagen, jedoch dazu kam sie nicht. Denn in diesem Augenblick grölte Fred aus der Küche: „Verschwindet hier, ihr Lumpenpack! Wir kaufen nichts!“  Der Junge lachte wieder.  „Dein Papagei weiß Bescheid. Aber sorge dich nicht, du brauchst nichts zu kaufen, Franziska. Ich bin da, um dir fröhliche Weihnachten zu wünschen!“ „Fröhliche Weihnachten!“, fauchte Franziska. „Fröhliche Weihnachten!! Danke für den frommen Wunsch. Aber wie soll denn jemand wie ich fröhliche Weihnachten haben? Seit Jahren bin ich allein. Kein Mensch kümmert sich um mich. Kein Mensch denkt auch nur an mich. Nein, das mit den fröhlichen Weihnachten, das wird wohl nichts!“ Herausfordernd starrte sie den Jungen an. Doch der sagte nichts. Betrachtete sie nur neugierig. Auch sie schwieg. Sie wollte dem Jungen die Tür vor der kecken Nase zuwerfen, aber es funktionierte nicht. Sie stand wie erstarrt. Kuno tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Ihr Bruder, der – egal was passierte – immer ihr Bruder bleiben würde. Er war so anders als sie. Sie konnte ihn nicht verstehen. Als hätte der Junge ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Aber er ist doch nicht weniger wert, nur weil du ihn nicht verstehst. Vielleicht musst du ihn gar nicht verstehen. Vielleicht genügt es, ihn zu lieben.“

Und dann Gottlieb. Er hatte sie verlassen, obwohl sie alles für ihn getan hatte. Sie hatte sich so bemüht, ihm eine gewissenhafte Ehefrau zu sein. Da brach es plötzlich aus ihr heraus. „Immer hab ich alles für jeden getan. Ich habe Kuno großgezogen. Habe versucht einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. Ich habe ihm gegeben, was ich konnte. Aber es hat nicht gereicht. Und dann Gottlieb. War ich nicht immer ordentlich und anständig? Die Wohnung war immer aufgeräumt, und er bekam täglich sein warmes Essen, wenn er nach Hause kam. Er hatte immer frisch gewaschene und gebügelte Kleidung. Und mindestens fünfmal täglich habe ich ihm seine Brille geputzt. Aber es war ihm nicht genug. Was hätte ich denn sonst noch tun sollen?“ Sie begann hemmungslos zu schluchzen. All ihre jahrelang aufgestaute Frustration, ihre Enttäuschung und ihr Schmerz stürzten wie ein gewaltiger Wasserfall, der alles mitriss, aus ihr heraus. „Vielleicht habe ich Fehler gemacht. Vielleicht habe ich alles falsch gemacht.  Aber ich tat alles, was ich konnte.“ Das Schluchzen schüttelte sie, sodass sie kaum noch sprechen konnte. Leise hörte sie die Stimme des Jungen. „Wenn wir von Fehlern reden wollen, dann hast ganz gewiss nicht nur du welche gemacht. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, einfach jetzt Entscheidungen zu treffen, die dich glücklich machen.“  „Wie soll ich denn das machen?“ schluchzte Franziska. „Indem du auf dein Herz hörst!“, sagte der Junge. „Auf mein Herz“, schluchzte Franziska, „wie soll denn das gehen?“ Aber sie sprach zu ihrem leeren Garten. Der Junge war weg.

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Vier Tage vor Weihnachten! Gottlieb saß in seinem kleinen Untermietzimmer und rieb seine kalten Hände aneinander, um sie zu wärmen. Die fünften Weihnachten ohne Franziska. Wenn er hätte sagen müssen, warum er an diesem denkwürdigen Tag, als er gegangen war, um die Zeitung zu kaufen, nicht mehr nach Hause zurückgekehrt war – er hätte es nicht gewusst. Zu eng war ihm alles geworden. Zu akkurat. Als er Franziska geheiratet hatte, hatte er das – zumindest zum Teil – deshalb getan, weil er sich nach einem  behaglichen, wohlgeordneten Heim gesehnt hatte. Und natürlich auch, weil er Franziska wirklich gern mochte.

Sie hatte in der Bäckerei gearbeitet, in der er sich täglich seine Frühstückssemmeln kaufte.  Sie hatte auf ihn immer ein wenig schüchtern und zurückhaltend gewirkt, aber überaus tüchtig und umsichtig.

Franziska hatte sich vom ersten Tag ihrer Ehe an Mühe gegeben, alles sauber zu halten und ihn zu versorgen und zu bemuttern. Oh, man konnte ihr nichts vorwerfen. Sie war eine vorbildliche und ordentliche Hausfrau gewesen. Aber hatte sie jemals bemerkt, dass es ihm nicht so wichtig war, ob die Betten jeden Samstag neu bezogen wurden und jedes Staubkörnchen entfernt wurde, ehe es auch nur Zeit fand, sich auf irgendeinem Möbelstück häuslich niederzulassen?

Hatte sie jemals bemerkt, dass er manchmal einfach gerne mit ihr dagesessen und geredet hätte, dass er manchmal gerne etwas mit ihr unternommen hätte? Dafür war nie Zeit gewesen. Sie hatte das Haus geputzt, sie hatte seine Brillen geputzt, und das bis zu fünfzehn mal täglich. Und wenn sie nicht geputzt hatte, hatte sie Deckchen gehäkelt und das gesamte Haus damit dekoriert. Sogar den Klo-Deckel hatte sie mit einem schicken Mäntelchen versehen. Damit und mit ihrer Fürsorge und ständigen Betriebsamkeit hatte sie ihn manchmal halb in den Wahnsinn getrieben.

Er seufzte. Dennoch hatte er sie gern gehabt, seine Franziska. Er hatte sie immer noch gern. „Dann wird es Zeit, dass du eine Entscheidung triffst, die dich glücklich macht!“ Gottlieb erschrak fürchterlich. Vor ihm stand wie aus dem Boden gewachsen eine höchst sonderbare Gestalt. Irgendwie sah das Wesen aus wie ein kleiner Junge, seine Kleidung war jedoch keine normale Jungenkleidung, und seine Ohren waren spitz. „Wer bist du?“, flüsterte Gottlieb. Und wie bist du hier hereingekommen?“  Der Junge ging nicht auf seine Frage ein. „Hast du ihr jemals gesagt, was dir wichtig ist?“ fragte er stattdessen. „Und hast du auch wirklich einmal darauf geachtet, was ihr wichtig ist?“

Gottlieb schloss verwirrt die Augen. Träumte er? Was war hier los? Er öffnete den Mund zu einer Antwort… zu einer Frage… doch er brachte keinen Ton hervor. Und als er es endlich wagte, seine Augen wieder zu öffnen, war der Junge weg. Jedoch schien ihm, als hörte er aus der Ferne eine Stimme flüstern. „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht.“

Eine Entscheidung, die mich glücklich macht, dachte Gottlieb verwirrt. Dafür war es wohl zu spät. Er würde es nie wieder wagen, nach Hause zurückzukehren. Franziska würde ihn ja auch gar nicht zurücknehmen wollen, da war er sich sicher. Dafür hatte er ihr zu viel angetan. Aber wenigstens anrufen könnte er sie. Nur um ihr frohe Weihnachten zu wünschen und ihr zu sagen, wie leid ihm alles täte. Er wusste jedoch nicht, ob er den Mut dazu haben würde. „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht!“, hörte er da ganz leise die Stimme des Jungen aus der Ferne. Oder hatte er sich das nur eingebildet?

Egal wie. Er würde tun, was zu tun war. Langsam und bedächtig griff er nach dem Telefonhörer.

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Vier Tage vor Weihnachten. Es hatte zu schneien begonnen, und Kuno beschloss, seinen täglichen Spaziergang durch den Park heute bis zum Wäldchen auf der anderen Flussseite auszudehnen. Die Hände auf dem Rücken, sein linkes Bein hinter sich her schleifend, ging er die verschneiten Parkwege entlang. Sein hinkender Gang störte ihn schon längst nicht mehr. Früher, ja da war das schlimm gewesen. Wenn seine Schulkameraden durch die Straßen rannten, wenn sie zum Fußballspielen gingen, zum Schifahren und Rollschuhlaufen, und er nirgends mithalten konnte, da fraß ihn manchmal die Verzweiflung über seine Behinderung fast auf. Als er älter wurde, und Mädchen in seinem Leben eine Rolle zu spielen begannen, da merkte er, dass leider nicht nur die inneren Werte zählten, wie seine Schwester ihn immer zu trösten versuchte. Nach zwei herben Enttäuschungen, entschied er, allein zu bleiben. Er verkroch sich hinter seinen Büchern, fraß Bildung in sich hinein und bemerkte bald, dass seine Schwester mit ihm nicht mehr mithalten konnte.   Sie war zwar gutmütig und tüchtig, häkelte endlos viele Deckchen und verfolgte ihn ständig mit einer Kleiderbürste, um nicht vorhandene Fusseln von seiner Kleidung zu bürsten,  aber für seine Begriffe war sie doch sehr einfach konstruiert

Ihr war es immer nur wichtig gewesen, das Haus in Ordnung zu halten und ihn zu versorgen. Für mehr interessierte sie sich nicht. Wenn er mit ihr philosophische oder politische Gespräche führen wollte, hatte sie sich stets hinter Hausarbeit versteckt oder blitzartig ihr stets griffbereites Häkelzeug an sich gerissen und wie von Furien gehetzt losgehäkelt.

Dennoch war sie war von ihnen beiden immer die Starke, Überlegene gewesen. Allein schon deshalb, weil sie die Ältere war.

Nun war er wenigstens der Kluge und Gebildete. Er mochte Franziska, aber er konnte nie verstehen, wie ihr das Leben, das sie gewählt hatte, genügen konnte. Sie hatte nie nach Höherem gestrebt. Ihm wurde das Dasein, das sie führten, bald zu eng und zu kleinkariert. Er wollte weg, wollte die Welt sehen, wollte Erfahrungen sammeln. Er wollte der Welt zeigen, dass er auch mit seiner Behinderung ein ernstzunehmender Mensch war. Franziska hatte ihn nur verständnislos angesehen, als er versucht hatte, ihr das zu erklären. „Du hast doch alles, was du brauchst!“, hatte sie gesagt und den Kopf geschüttelt. Damit war das Thema für erledigt gewesen und sie war wieder zur Tagesordnung übergegangen.

Er hatte in seinem Leben viele fremde Länder bereist, er hatte viel gesehen und viel gelernt. Und nun – im Alter von nahezu 55 Jahren, begann er sich erstmals zu fragen, ob er denn gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. „Dazu müsstest du dir erst einmal klarmachen, wonach du gesucht hast!“, hörte er plötzlich eine Stimme neben sich sagen. Er zuckte zusammen und blickte zur Seite. Er hatte diesen sonderbaren Jungen, der da plötzlich neben ihm ging, nicht kommen gehört. „Wer bist du?“ knurrte er, „und woher kommst du so plötzlich?“

Der Junge lachte. „Das fragen mich alle! Wenn du unbedingt einen Namen für mich brauchst, dann nenn mich einfach Marakantandel. Oder von mir aus auch – falls dir Marakantandel zu lang ist – Kurt. Es ist egal.“

Kuno runzelte die Stirn und sah den Jungen genauer an. Das Gesicht sah aus wie ein ganz normales Jungengesicht, aber der Junge wirkte wie verkleidet mit seiner komischen Mütze und der bunten Kleidung. Und er hatte auffallend spitze Ohren.  So etwas wie diesen Jungen konnte es eigentlich gar nicht geben. Vermutlich lag diese ganze Erscheinung daran, dass er sich heute ein zweites Glas Glühwein genehmigt hatte. Ja genau, das musste es sein.

Der Junge lachte hell und fröhlich. „Ja genau, so wird es sein. Und hättest du noch ein drittes Glas Glühwein getrunken, würdest du mich sogar doppelt sehen.“ Der Junge schüttelte sich vor Lachen.

Kuno wurde ärgerlich „Geh nach Hause und zieh dir anständige Kleidung an“, fuhr er denn Jungen an. „Und mach um alles in der Welt was mit deinen Ohren. Das sieht ja lächerlich aus.“ 

Der Junge ignorierte seine Aufforderung. „Weißt du, wonach du dein ganzes Leben lang gesucht hast?“ fragte er stattdessen. „Wenn nicht, dann denk drüber nach. Vielleicht begreifst du dann auch, dass du nicht um die halbe Welt hättest reisen müssen, um es zu finden.“

„Lass mich in Ruhe“, brummte Kuno, „es ist ohnedies zu spät, etwas zu ändern.“

„Du brauchst ja auch nicht die Vergangenheit zu ändern. Du brauchst ja nur JETZT eine Entscheidung treffen, die dich glücklich macht. Verstehst du? JETZT!“

Plötzlich wusste Kuno, was er sein Leben lang gesucht hatte. Wie eine Erleuchtung kam es über ihn.

„Ein bisschen Frieden im Herzen hätte ich gebraucht“, flüsterte er. „Mit mir selbst hätte ich Frieden schließen müssen. Franziska konnte nichts dafür. Sie konnte nichts für meine Krankheit. Sie konnte nichts für meine Behinderung. Sie tat, was sie konnte.“

„So ist es“, sagte der Junge. „Du bist, wer du bist. Nichts kann daran etwas ändern. Auch deine Behinderung ändert nicht, wer du bist. Dein Leben lang damit zu hadern ist deine eigene Entscheidung. Du musst dich nicht beweisen, da du ja sowieso bist, der du bist. Du musst das nur begreifen, dann hast du, was du dein Leben lang gesucht hast.“

„Den Frieden im Herzen“, murmelte Kuno.

Und völlig unvermutet spürte er ihn plötzlich ganz tief in sich drin, diesen Frieden.

„Triff ab jetzt nur mehr Entscheidungen, die dich glücklich machen“, sagte der Junge.

„Das werde ich tun“, flüsterte Kuno, „das werde ich ganz gewiss tun.“  Jedoch da war keiner mehr, dem er das hätte sagen können.

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Lange Zeit saß Franziska nur still da. Sie fühle sich seltsam leicht und friedlich. Hatte sie das alles nur geträumt? „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht!“ hörte sie die Stimme des Jungen immer noch in ihrem Ohr. Dieser einfache Satz hatte bewirkt, dass in ihr Zuversicht entstanden war. Alles könnte gut werden. Ihre eigenen Entscheidungen hatten damit zu tun.

Sie schrak zusammen als plötzlich das Telefon klingelte. „Frrrreudensprrrrung! Wir kaufen nichts!“ grölte Fred durchs Haus.  Mühsam erhob sie sich und schlurfte ins Wohnzimmer. „Freudensprung“, meldete sich, und sie merkte, dass ihre Stimme anders klang als sonst. Irgendwie heller, fröhlicher. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Sie hörte nur leises Atmen. „Hallo? Ist da jemand?“ fragte sie nochmal. „Franziska!“ hörte sie eine wohlvertraute Stimme an ihr Ohr klingen. Gottlieb! Gottlieb hatte angerufen. Sie hielt die Luft an. „Franziska, ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst.“ Gottliebs sprach leise und seine Stimme klang heiser. „Aber ich möchte, dass du weißt, wie unendlich leid mir alles tut.“ Sie schwieg nur eine Sekunde lang. Dann sagte sie mit sanfter Stimme. „Komm nach Hause, Gottlieb. Komm einfach nach Hause!“ 

Franziska saß immer noch fassungslos neben dem Telefon, nachdem sie schon längst aufgelegt hatte. Gottlieb würde nach Hause kommen. Sie bemerkte zum ersten Mal, wie sehr er ihr gefehlt hatte, wie sehr sie ihn liebte.

Wenn doch nur auch Kuno kommen würde. Wie sehr wünschte sie sich das. Aber der war vermutlich zu stolz und zu starrköpfig. Da fielen ihr die Worte des Jungen wieder ein. „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht.“ Das war es. Sie musste nicht warten, bis Kuno eine Entscheidung traf. Sie konnte selbst handeln.

Rasch eilte sie in ihre Garderobe, zog Schuhe und Mantel an und verließ entschlossen ihr Haus. Sie würde zu Kuno gehen und ihn für den Weihnachtsabend einladen.

Es schneite immer noch und sie zog den Kopf ein, als sie raschen Schrittes ihren Garten durchquerte. So sah sie auch nicht die dunkle Gestalt, die gerade ihren Garten betrat. Geradewegs rannte sie in sie hinein. Erschrocken hob sie den Kopf und traute ihren Augen nicht. Kuno! Kuno war zu ihr gekommen. „Guten Abend, Franziska. Wohin so stürmisch?“ fragte er mit seiner tiefen, warmen Stimme. „Ich wollte gerade zu dir!“ stammelte sie verwirrt. „Ich wollte dich für Weihnachten einladen.“ „Das trifft sich, denn ich hatte ähnliches im Sinn!“ Kuno lächelte. Er lächelte glücklich wie nie zuvor. Keine Herablassung, keine Geringschätzung lag in seinem Lächeln. Warm und herzlich lächelte er.

So kam es, dass am Weihnachtsabend drei glückliche Menschen und ein gesprächiger Papagei  in Franziskas Wohnzimmer saßen. Vor einem Weihnachtsbaum, den sie im letzten Augenblick noch gekauft und geschmückt hatten.

Und alle drei dachten voller Dankbarkeit an den Jungen, von dem sie sich nicht sicher waren, ob sie ihn nicht nur geträumt hatten und von dem sie den anderen nie erzählen würden.


E.M.

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