Vier Tage vor Weihnachten. Franziska Freudensprung stand an ihrem Küchenfenster und blickte versonnen in den Garten. Es war noch früh am Abend – eigentlich noch Nachmittag – dennoch begann es bereits zu dunkeln. „In vier Tagen ist Weihnachten“, murmelte sie vor sich hin. Wieder mal Weihnachten. Zum fünften Mal feierte sie Weihnachten nun allein mit ihrem Papagei Fred. Zum fünften Mal ohne ihren Mann Gottlieb. Und noch immer wusste sie nicht, wohin Gottlieb verschwunden war, als er vor fünf Jahren an einem nebligen Novemberabend nur kurz um die Ecke gehen wollte, um die Zeitung zu kaufen.
Vor einer halben Stunde hatte es zu
schneien begonnen und ihr Garten war bereits mit einer dünnen, weißen Decke
überzogen. Franziska seufzte. Manchmal
legte sich die Einsamkeit so völlig über sie, wie die Schneedecke über ihren
Garten und nahm ihr förmlich die Luft zum Atmen. Sie hatte keine Freunde und
auch keine Familie. Abgesehen von ihrem Bruder Kuno. Aber den konnte sie leider
nicht ausstehen. Sie sprachen seit
Jahren nicht mehr miteinander.
Doch in letzter Zeit musste sie öfter an
ihn denken. Stundenlang saß sie in ihrem Schaukelstuhl, schaukelte vor sich
hin, und dachte über die Vergangenheit nach. Sie war bereits zwölf Jahre alt
gewesen, als Kuno geboren worden war. Sie hatte dieses Baby über alles geliebt.
Sie hatte es gehegt und gepflegt, und als der kleine Bruder gelernt hatte, zu
laufen, hatte sie ihn ständig mit sich herumgeschleppt und allen ihren
Schulkameradinnen präsentiert. Sie war so unglaublich stolz auf diesen kleinen,
blonden Jungen gewesen, der alle mit seinem Charme bezaubert hatte. Doch dann
war Kuno an Kinderlähmung erkrankt. Und plötzlich war es, als gäbe es Franziska
nicht mehr. Alle Aufmerksamkeit hatte sich dem kleinen Bruder zugewandt. Lange
Zeit hatte er im Krankenhaus um sein Leben gekämpft. Und jahrelang hatte seine
schwere Erkrankung ihm die nahezu ungeteilte Zuwendung der Eltern gesichert und
Franziska in den Schatten gedrängt. Was für sie geblieben war, war die Mutter
gewesen, die zehnmal am Tag rief: „Franziska, kannst du mir bitte helfen?“ und
dafür einmal wöchentlich seufzend sagte: „Wenn ich dich nicht hätte...!“ Und
dann ihr Vater, der ihr öfter über die Schulter oder den Kopf gestrichen und
dazu gemurmelt hatte: „Ja, ja, meine Liebe.“ Und wenn sie es recht bedachte,
bekam niemand mehr von ihm. Weder die Mutter noch der Bruder. Wenn er besonders
gute Laune hatte, wurde ein schwungvolles Schulterklopfen daraus und dazu sagte
er aus tiefster Überzeugung: „Vortrefflich, vortrefflich!“, wobei keiner genau
wusste, was er damit meinte. Dennoch sah sie sich langsam und unaufhaltsam
hinter der Pflegebedürftigkeit des kleinen Bruders verschwinden. Franziska war eifersüchtig.
Kuno wurde wieder gesund. Er lernte auch,
wieder zu laufen, jedoch blieb in seinem linken Bein eine Schwäche zurück, die
ihm für den Rest seines Lebens einen
hinkenden Gang bescherte. In die Familie kehrte wieder Normalität ein. Dennoch
blieb Kuno der verwöhnte Liebling, und niemand bemerkte, wie Franziska, die sich so sehr nach der Liebe der
Eltern sehnte, auf die sie so lange hatte verzichten müssen, immer mehr und
mehr in sich zurückzog.
Als Franziska 22 Jahre alt war, starben die
Eltern im Abstand von wenigen Monaten und Franziska war plötzlich für ihren
kleinen Bruder verantwortlich. So
versuchte sie eben, Kuno so gut wie möglich die Eltern zu ersetzen und ihn zu
einem anständigen Menschen zu erziehen.
Anfangs war das noch einfach gewesen. Kuno
war ein fröhliches Kind, und seine liebenswerte herzliche Wesensart machte es
ihm leicht, Sympathien zu gewinnen. Franziska wäre gerne gewesen wie er – so
unbesorgt und unbekümmert, so fröhlich und egoistisch. Doch die Verantwortung,
für die sie eigentlich viel zu jung war, drückte schwer auf ihre Schultern, und
die Fröhlichkeit war ihr schon vor langer Zeit abhanden gekommen. Gerne hätte
sie auch Freunde gehabt. Aber wie man Freundschaften schloss, hatte sie schon
als Kind nicht so recht gewusst.
Kuno entwickelte sich zu einem verwöhnten
und kapriziösen jungen Mann, der jegliches Spießertum verachtete. Franziska und
die Welt, in der sie lebte, betrachtete er mit nachsichtiger, milder
Geringschätzung. Er ließ sein Haar wachsen, und trug gerne bunte, auffallende
Kleidung. Und obwohl Franziska gerne gesehen hätte, dass er einen soliden Beruf
– wie Koch oder Bankbeamter ergriffen hätte, entschied er sich für eine Lehre
als Reisebürokaufmann. Er sprach von fremden Ländern, von denen Franziska noch
nicht einmal gehört hatte, und davon, dass er die Welt bereisen wollte. Er las
viele kluge Bücher und benützte im Gespräch Wörter, die Franziska nicht
verstand. Auch brachte er immer wieder Themen zur Sprache, von denen sie keine
Ahnung hatte. Sie hatte niemals Zeit gehabt, sich mit Bildung zu beschäftigen.
Franziska begann sich in seiner Gegenwart dumm, unzureichend und hilflos zu
fühlen. Kunos überlegenes und immer etwas mitleidiges Lächeln konnte sie nicht
mehr ertragen.
Letztendlich wurde Kuno erwachsen, jedoch
verstehen konnten sie einander immer noch nicht. Kuno begann nun tatsächlich,
als Reiseleiter die Welt zu bereisen. Sie sahen einander nur noch selten. Von
irgendeiner seiner Reisen hatte er Fred mitgebracht. Da er jedoch selten zu
Hause war, konnte er ihn nicht behalten und seither wohnte Fred bei ihr. Dafür würde
sie ihm ewig dankbar sein, denn sie liebte diesen verrückten, lauten Papagei.
Aber dass er allem, was sie ihm bieten konnte, den Rücken gekehrt hatte, um
eine Welt zu bereisen, von der man nicht viel mehr wusste, als dass sie rund
war, konnte sie ihm nicht verzeihen. Und irgendwann brach der Kontakt ab.
Sie war fast 45 Jahre alt gewesen, als sie
Gottlieb kennengelernt und geheiratet hatte. Warum, das wusste sie nicht genau.
Vermutlich einfach deshalb, weil er sie gefragt hatte, und ihr das Leben nicht
viele Alternativen bot. Es war nicht die große, überschäumende Liebe gewesen, jedoch
hatte sich mit der Zeit ein solides Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt. Auch
ihre Eltern wären mit Gottlieb zufrieden gewesen, hätten sie noch gelebt. Ihr
Vater einfach deshalb, weil Gottlieb Schach spielen konnte. Franziska sah es
förmlich vor sich, wie ihr Vater Gottlieb mit einer Hand auf die Schulter
klopfte und „vortrefflich, vortrefflich“ murmelte, während er mit der anderen
Hand die Schachfiguren aufstellte. Und ihre Mutter hätte Gottlieb gemocht, weil
er nicht nur ein erstklassiger Buchhalter war, sondern im Notfall auch
betonieren konnte. Ihre Mutter pflegte zu sagen: „Und wenn einer noch so ein
Lump ist, so lange er betonieren kann, ist nicht alles verloren.“ Nicht dass jemals jemand Gottlieb hätte
betonieren sehen. Die Notwendigkeit dazu bestand auch nie. Aber das
Bewusstsein, dass er es im Ernstfall konnte, vermittelte schon ein Gefühl der Sicherheit.
Bis Gottlieb in dieser Novembernacht vor
fünf Jahren verschwunden war. Franziska war am Boden zerstört. Alles, alles
hätte sie ihm verziehen, wäre er nur zurückgekommen. Keine Fragen hätte sie ihm
gestellt, ihm keine Vorwürfe gemacht. Doch ihre anfängliche Sorge, ihre
Verletztheit und ihr Schmerz hatten sich im Laufe der Zeit erst in
hoffnungslose Trauer und danach in Groll und Unversöhnlichkeit verwandelt.
Ihretwegen hätte er obdachlos im Park sitzen und erfrieren können. Sie war
fertig mit ihm.
Kuno hingegen hatte nie geheiratet. Er war
ein etwas sonderbarer Einzelgänger geworden und lebte in einem kleinen Haus am
Stadtrand, nur zehn Minuten von Franziskas Elternhaus – in dem sie immer noch
lebte - entfernt. Ganz konnte sie nicht verstehen, was aus ihrem schillernden,
glänzenden Bruder geworden war. Und vor allem warum. Es mochte wohl sein, dass
es einfach zu wenige Menschen gab, die seinen Ansprüchen genügten. Nicht jeder
konnte Shakespeare zitieren und verstand Wörter, an denen selbst die Gelehrten im
alten Rom noch zu knabbern gehabt hätten. Einen anderen Grund konnte sie sich
nicht vorstellen.
Manchmal sah sie ihn aus der Ferne, wenn
er, den Blick auf den Boden gerichtet und die Hände auf dem Rücken verschränkt,
seinen täglichen Spaziergang absolvierte, seine seltsame bunte Strickmütze über
die Ohren gezogen. Sie drehte jedes Mal den Kopf weg.
Doch in letzter Zeit schlich Kuno sich
immer öfter in Franziskas Gedanken. Immer öfter dachte sie an den heiteren
Jungen, der ihr kleiner Bruder gewesen war, und den sie so geliebt hatte. Und an den einsamen Erwachsenen, der er
geworden war. Aber den Mut, ihn einmal anzusprechen, wenn sie ihn sah, hatte
sie nicht.
Auch an Gottlieb musste sie seit einigen
Wochen häufig denken. Jahrelang hatte sie sich die Gedanken an ihn nicht
erlaubt, sie im Keim erstickt. Doch immer weniger konnte sie die Erinnerung an
ihn verdrängen, ihn immer weniger aus ihrem Kopf verbannen.
Das Schrillen der Türklingel riss sie
unvermutet aus ihren Gedanken. Fred, der seinen Kopf unter den Flügel gesteckt
hatte und vor sich hin gedöst hatte, schrak auf und grölte. „Frrrreudensprrrung!!“ „Das war nicht das Telefon, Blödmann. Das war
die Türklingel“, brummte Franziska und schlurfte zur Tür. Umständlich legte sie
die Sicherheitskette vor und drehte sie den Schlüssel im Schloss. Dann öffnete
sie die Tür und spähte durch den Spalt nach draußen. Draußen war es dunkel, sie konnte niemanden
erkennen. „Ist da jemand?“, frage sie ärgerlich. Alles blieb still. Sie
lauschte kurz in die Dunkelheit. Kein Ton war zu hören. Kopfschüttelnd wollte
sie die Tür wieder schließen, da sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich eine
Gestalt aus der Dunkelheit löste. Sie
blieb stehen und linste durch den Türspalt nach draußen. Ihre Augen gewöhnten
sich langsam an die Dunkelheit und sie konnte einen sonderbar gekleideten
Jungen erkennen, der da stand und sie unverwandt ansah. Unter einer sonderbaren
Zipfelmütze lugten schwarze, struppige Haare und spitze Ohren hervor. Er trug
eine bunte Jacke und ebensolche Hosen. „Um alles in der Welt, wer bist du?“
flüsterte sie. Der Junge lachte hell. „Was
bedeutet das schon? Ich bin einfach der, der ich bin. Vielleicht ein Zauberer,
vielleicht ein Weihnachtself, vielleicht der Osterhase. Vielleicht bin ich aber
auch nur der, der kommt, wenn die Einsamkeit unerträglich wird. Aber was
bedeutet es?“
Franziska runzelte verwirrt die Stirn. „Ich
glaube, du bist hier falsch. Du hast dich sicher im Haus geirrt. Es ist besser,
wenn du so schnell wie möglich wieder verschwindest.“ „Ob es besser ist, kannst
du nicht wissen. Du kannst nur wissen, was du im Augenblick möchtest, aber nicht,
was besser ist.“
Darauf fiel Franziska so schnell keine
passende Antwort ein. Aber sie hatte auch keine Lust, mit diesem seltsamen
Jungen vor ihrer Tür zu diskutieren. „Sieh zu, dass du wegkommst….“, wollte sie
sagen, jedoch dazu kam sie nicht. Denn in diesem Augenblick grölte Fred aus der
Küche: „Verschwindet hier, ihr Lumpenpack! Wir kaufen nichts!“ Der Junge lachte wieder. „Dein Papagei weiß Bescheid. Aber sorge dich
nicht, du brauchst nichts zu kaufen, Franziska. Ich bin da, um dir fröhliche
Weihnachten zu wünschen!“ „Fröhliche Weihnachten!“, fauchte Franziska.
„Fröhliche Weihnachten!! Danke für den frommen Wunsch. Aber wie soll denn
jemand wie ich fröhliche Weihnachten haben? Seit Jahren bin ich allein. Kein
Mensch kümmert sich um mich. Kein Mensch denkt auch nur an mich. Nein, das mit
den fröhlichen Weihnachten, das wird wohl nichts!“ Herausfordernd starrte sie
den Jungen an. Doch der sagte nichts. Betrachtete sie nur neugierig. Auch sie
schwieg. Sie wollte dem Jungen die Tür vor der kecken Nase zuwerfen, aber es
funktionierte nicht. Sie stand wie erstarrt. Kuno tauchte vor ihrem inneren
Auge auf. Ihr Bruder, der – egal was passierte – immer ihr Bruder bleiben
würde. Er war so anders als sie. Sie konnte ihn nicht verstehen. Als hätte der
Junge ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Aber er ist doch nicht weniger wert, nur
weil du ihn nicht verstehst. Vielleicht musst du ihn gar nicht verstehen.
Vielleicht genügt es, ihn zu lieben.“
Und dann Gottlieb. Er hatte sie verlassen, obwohl sie alles für ihn getan hatte. Sie hatte sich so bemüht, ihm eine gewissenhafte Ehefrau zu sein. Da brach es plötzlich aus ihr heraus. „Immer hab ich alles für jeden getan. Ich habe Kuno großgezogen. Habe versucht einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. Ich habe ihm gegeben, was ich konnte. Aber es hat nicht gereicht. Und dann Gottlieb. War ich nicht immer ordentlich und anständig? Die Wohnung war immer aufgeräumt, und er bekam täglich sein warmes Essen, wenn er nach Hause kam. Er hatte immer frisch gewaschene und gebügelte Kleidung. Und mindestens fünfmal täglich habe ich ihm seine Brille geputzt. Aber es war ihm nicht genug. Was hätte ich denn sonst noch tun sollen?“ Sie begann hemmungslos zu schluchzen. All ihre jahrelang aufgestaute Frustration, ihre Enttäuschung und ihr Schmerz stürzten wie ein gewaltiger Wasserfall, der alles mitriss, aus ihr heraus. „Vielleicht habe ich Fehler gemacht. Vielleicht habe ich alles falsch gemacht. Aber ich tat alles, was ich konnte.“ Das Schluchzen schüttelte sie, sodass sie kaum noch sprechen konnte. Leise hörte sie die Stimme des Jungen. „Wenn wir von Fehlern reden wollen, dann hast ganz gewiss nicht nur du welche gemacht. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, einfach jetzt Entscheidungen zu treffen, die dich glücklich machen.“ „Wie soll ich denn das machen?“ schluchzte Franziska. „Indem du auf dein Herz hörst!“, sagte der Junge. „Auf mein Herz“, schluchzte Franziska, „wie soll denn das gehen?“ Aber sie sprach zu ihrem leeren Garten. Der Junge war weg.
💥
Vier Tage vor
Weihnachten! Gottlieb saß in seinem kleinen Untermietzimmer und rieb seine
kalten Hände aneinander, um sie zu wärmen. Die fünften Weihnachten ohne Franziska.
Wenn er hätte sagen müssen, warum er an diesem denkwürdigen Tag, als er
gegangen war, um die Zeitung zu kaufen, nicht mehr nach Hause zurückgekehrt war
– er hätte es nicht gewusst. Zu eng war ihm alles geworden. Zu akkurat. Als er
Franziska geheiratet hatte, hatte er das – zumindest zum Teil – deshalb getan,
weil er sich nach einem behaglichen,
wohlgeordneten Heim gesehnt hatte. Und natürlich auch, weil er Franziska
wirklich gern mochte.
Sie hatte in der
Bäckerei gearbeitet, in der er sich täglich seine Frühstückssemmeln
kaufte. Sie hatte auf ihn immer ein
wenig schüchtern und zurückhaltend gewirkt, aber überaus tüchtig und umsichtig.
Franziska hatte
sich vom ersten Tag ihrer Ehe an Mühe gegeben, alles sauber zu halten und ihn
zu versorgen und zu bemuttern. Oh, man konnte ihr nichts vorwerfen. Sie war
eine vorbildliche und ordentliche Hausfrau gewesen. Aber hatte sie jemals
bemerkt, dass es ihm nicht so wichtig war, ob die Betten jeden Samstag neu
bezogen wurden und jedes Staubkörnchen entfernt wurde, ehe es auch nur Zeit
fand, sich auf irgendeinem Möbelstück häuslich niederzulassen?
Hatte sie jemals
bemerkt, dass er manchmal einfach gerne mit ihr dagesessen und geredet hätte, dass
er manchmal gerne etwas mit ihr unternommen hätte? Dafür war nie Zeit gewesen.
Sie hatte das Haus geputzt, sie hatte seine Brillen geputzt, und das bis zu
fünfzehn mal täglich. Und wenn sie nicht geputzt hatte, hatte sie Deckchen
gehäkelt und das gesamte Haus damit dekoriert. Sogar den Klo-Deckel hatte sie
mit einem schicken Mäntelchen versehen. Damit und mit ihrer Fürsorge und ständigen
Betriebsamkeit hatte sie ihn manchmal halb in den Wahnsinn getrieben.
Er seufzte.
Dennoch hatte er sie gern gehabt, seine Franziska. Er hatte sie immer noch
gern. „Dann wird es Zeit, dass du eine Entscheidung triffst, die dich glücklich
macht!“ Gottlieb erschrak fürchterlich. Vor ihm stand wie aus dem Boden
gewachsen eine höchst sonderbare Gestalt. Irgendwie sah das Wesen aus wie ein
kleiner Junge, seine Kleidung war jedoch keine normale Jungenkleidung, und
seine Ohren waren spitz. „Wer bist du?“, flüsterte Gottlieb. Und wie bist du
hier hereingekommen?“ Der Junge ging
nicht auf seine Frage ein. „Hast du ihr jemals gesagt, was dir wichtig ist?“
fragte er stattdessen. „Und hast du auch wirklich einmal darauf geachtet, was
ihr wichtig ist?“
Gottlieb schloss
verwirrt die Augen. Träumte er? Was war hier los? Er öffnete den Mund zu einer
Antwort… zu einer Frage… doch er brachte keinen Ton hervor. Und als er es
endlich wagte, seine Augen wieder zu öffnen, war der Junge weg. Jedoch schien ihm,
als hörte er aus der Ferne eine Stimme flüstern. „Triff eine Entscheidung, die
dich glücklich macht.“
Eine
Entscheidung, die mich glücklich macht, dachte Gottlieb verwirrt. Dafür war es
wohl zu spät. Er würde es nie wieder wagen, nach Hause zurückzukehren.
Franziska würde ihn ja auch gar nicht zurücknehmen wollen, da war er sich
sicher. Dafür hatte er ihr zu viel angetan. Aber wenigstens anrufen könnte er
sie. Nur um ihr frohe Weihnachten zu wünschen und ihr zu sagen, wie leid ihm
alles täte. Er wusste jedoch nicht, ob er den Mut dazu haben würde. „Triff eine
Entscheidung, die dich glücklich macht!“, hörte er da ganz leise die Stimme des
Jungen aus der Ferne. Oder hatte er sich das nur eingebildet?
Egal wie. Er würde tun, was zu tun war. Langsam und bedächtig griff er nach dem Telefonhörer.
💥
Vier Tage vor
Weihnachten. Es hatte zu schneien begonnen, und Kuno beschloss, seinen
täglichen Spaziergang durch den Park heute bis zum Wäldchen auf der anderen
Flussseite auszudehnen. Die Hände auf dem Rücken, sein linkes Bein hinter sich her
schleifend, ging er die verschneiten Parkwege entlang. Sein hinkender Gang
störte ihn schon längst nicht mehr. Früher, ja da war das schlimm gewesen. Wenn
seine Schulkameraden durch die Straßen rannten, wenn sie zum Fußballspielen
gingen, zum Schifahren und Rollschuhlaufen, und er nirgends mithalten konnte,
da fraß ihn manchmal die Verzweiflung über seine Behinderung fast auf. Als er
älter wurde, und Mädchen in seinem Leben eine Rolle zu spielen begannen, da
merkte er, dass leider nicht nur die inneren Werte zählten, wie seine Schwester
ihn immer zu trösten versuchte. Nach zwei herben Enttäuschungen, entschied er,
allein zu bleiben. Er verkroch sich hinter seinen Büchern, fraß Bildung in sich
hinein und bemerkte bald, dass seine Schwester mit ihm nicht mehr mithalten
konnte. Sie war zwar gutmütig und
tüchtig, häkelte endlos viele Deckchen und verfolgte ihn ständig mit einer
Kleiderbürste, um nicht vorhandene Fusseln von seiner Kleidung zu bürsten, aber für seine Begriffe war sie doch sehr
einfach konstruiert
Ihr war es immer
nur wichtig gewesen, das Haus in Ordnung zu halten und ihn zu versorgen. Für
mehr interessierte sie sich nicht. Wenn er mit ihr philosophische oder
politische Gespräche führen wollte, hatte sie sich stets hinter Hausarbeit
versteckt oder blitzartig ihr stets griffbereites Häkelzeug an sich gerissen
und wie von Furien gehetzt losgehäkelt.
Dennoch war sie
war von ihnen beiden immer die Starke, Überlegene gewesen. Allein schon
deshalb, weil sie die Ältere war.
Nun war er
wenigstens der Kluge und Gebildete. Er mochte Franziska, aber er konnte nie
verstehen, wie ihr das Leben, das sie gewählt hatte, genügen konnte. Sie hatte
nie nach Höherem gestrebt. Ihm wurde das Dasein, das sie führten, bald zu eng
und zu kleinkariert. Er wollte weg, wollte die Welt sehen, wollte Erfahrungen
sammeln. Er wollte der Welt zeigen, dass er auch mit seiner Behinderung ein
ernstzunehmender Mensch war. Franziska hatte ihn nur verständnislos angesehen,
als er versucht hatte, ihr das zu erklären. „Du hast doch alles, was du
brauchst!“, hatte sie gesagt und den Kopf geschüttelt. Damit war das Thema für
erledigt gewesen und sie war wieder zur Tagesordnung übergegangen.
Er hatte in
seinem Leben viele fremde Länder bereist, er hatte viel gesehen und viel
gelernt. Und nun – im Alter von nahezu 55 Jahren, begann er sich erstmals zu
fragen, ob er denn gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. „Dazu müsstest du
dir erst einmal klarmachen, wonach du gesucht hast!“, hörte er plötzlich eine
Stimme neben sich sagen. Er zuckte zusammen und blickte zur Seite. Er hatte
diesen sonderbaren Jungen, der da plötzlich neben ihm ging, nicht kommen
gehört. „Wer bist du?“ knurrte er, „und woher kommst du so plötzlich?“
Der Junge lachte.
„Das fragen mich alle! Wenn du unbedingt einen Namen für mich brauchst, dann
nenn mich einfach Marakantandel. Oder von mir aus auch – falls dir
Marakantandel zu lang ist – Kurt. Es ist egal.“
Kuno runzelte die
Stirn und sah den Jungen genauer an. Das Gesicht sah aus wie ein ganz normales
Jungengesicht, aber der Junge wirkte wie verkleidet mit seiner komischen Mütze
und der bunten Kleidung. Und er hatte auffallend spitze Ohren. So etwas wie diesen Jungen konnte es
eigentlich gar nicht geben. Vermutlich lag diese ganze Erscheinung daran, dass
er sich heute ein zweites Glas Glühwein genehmigt hatte. Ja genau, das musste
es sein.
Der Junge lachte
hell und fröhlich. „Ja genau, so wird es sein. Und hättest du noch ein drittes
Glas Glühwein getrunken, würdest du mich sogar doppelt sehen.“ Der Junge
schüttelte sich vor Lachen.
Kuno wurde ärgerlich „Geh nach Hause und zieh dir anständige Kleidung an“, fuhr er denn Jungen an. „Und mach um alles in der Welt was mit deinen Ohren. Das sieht ja lächerlich aus.“
Der Junge
ignorierte seine Aufforderung. „Weißt du, wonach du dein ganzes Leben lang
gesucht hast?“ fragte er stattdessen. „Wenn nicht, dann denk drüber nach.
Vielleicht begreifst du dann auch, dass du nicht um die halbe Welt hättest
reisen müssen, um es zu finden.“
„Lass mich in
Ruhe“, brummte Kuno, „es ist ohnedies zu spät, etwas zu ändern.“
„Du brauchst ja
auch nicht die Vergangenheit zu ändern. Du brauchst ja nur JETZT eine
Entscheidung treffen, die dich glücklich macht. Verstehst du? JETZT!“
Plötzlich wusste
Kuno, was er sein Leben lang gesucht hatte. Wie eine Erleuchtung kam es über
ihn.
„Ein bisschen
Frieden im Herzen hätte ich gebraucht“, flüsterte er. „Mit mir selbst hätte ich
Frieden schließen müssen. Franziska konnte nichts dafür. Sie konnte nichts für
meine Krankheit. Sie konnte nichts für meine Behinderung. Sie tat, was sie
konnte.“
„So ist es“,
sagte der Junge. „Du bist, wer du bist. Nichts kann daran etwas ändern. Auch
deine Behinderung ändert nicht, wer du bist. Dein Leben lang damit zu hadern
ist deine eigene Entscheidung. Du musst dich nicht beweisen, da du ja sowieso
bist, der du bist. Du musst das nur begreifen, dann hast du, was du dein Leben
lang gesucht hast.“
„Den Frieden im
Herzen“, murmelte Kuno.
Und völlig
unvermutet spürte er ihn plötzlich ganz tief in sich drin, diesen Frieden.
„Triff ab jetzt
nur mehr Entscheidungen, die dich glücklich machen“, sagte der Junge.
„Das werde ich
tun“, flüsterte Kuno, „das werde ich ganz gewiss tun.“ Jedoch da war keiner mehr, dem er das hätte
sagen können.
Lange Zeit saß
Franziska nur still da. Sie fühle sich seltsam leicht und friedlich. Hatte sie
das alles nur geträumt? „Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht!“
hörte sie die Stimme des Jungen immer noch in ihrem Ohr. Dieser einfache Satz
hatte bewirkt, dass in ihr Zuversicht entstanden war. Alles könnte gut werden.
Ihre eigenen Entscheidungen hatten damit zu tun.
Sie schrak zusammen als plötzlich das Telefon klingelte. „Frrrreudensprrrrung! Wir kaufen nichts!“ grölte Fred durchs Haus. Mühsam erhob sie sich und schlurfte ins Wohnzimmer. „Freudensprung“, meldete sich, und sie merkte, dass ihre Stimme anders klang als sonst. Irgendwie heller, fröhlicher. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Sie hörte nur leises Atmen. „Hallo? Ist da jemand?“ fragte sie nochmal. „Franziska!“ hörte sie eine wohlvertraute Stimme an ihr Ohr klingen. Gottlieb! Gottlieb hatte angerufen. Sie hielt die Luft an. „Franziska, ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst.“ Gottliebs sprach leise und seine Stimme klang heiser. „Aber ich möchte, dass du weißt, wie unendlich leid mir alles tut.“ Sie schwieg nur eine Sekunde lang. Dann sagte sie mit sanfter Stimme. „Komm nach Hause, Gottlieb. Komm einfach nach Hause!“
Franziska saß immer noch fassungslos neben dem Telefon, nachdem sie schon längst aufgelegt hatte. Gottlieb würde nach Hause kommen. Sie bemerkte zum ersten Mal, wie sehr er ihr gefehlt hatte, wie sehr sie ihn liebte.
Wenn doch nur
auch Kuno kommen würde. Wie sehr wünschte sie sich das. Aber der war vermutlich
zu stolz und zu starrköpfig. Da fielen ihr die Worte des Jungen wieder ein.
„Triff eine Entscheidung, die dich glücklich macht.“ Das war es. Sie musste
nicht warten, bis Kuno eine Entscheidung traf. Sie konnte selbst handeln.
Rasch eilte sie
in ihre Garderobe, zog Schuhe und Mantel an und verließ entschlossen ihr Haus.
Sie würde zu Kuno gehen und ihn für den Weihnachtsabend einladen.
Es schneite immer noch und sie zog den Kopf ein, als sie raschen Schrittes ihren Garten durchquerte. So sah sie auch nicht die dunkle Gestalt, die gerade ihren Garten betrat. Geradewegs rannte sie in sie hinein. Erschrocken hob sie den Kopf und traute ihren Augen nicht. Kuno! Kuno war zu ihr gekommen. „Guten Abend, Franziska. Wohin so stürmisch?“ fragte er mit seiner tiefen, warmen Stimme. „Ich wollte gerade zu dir!“ stammelte sie verwirrt. „Ich wollte dich für Weihnachten einladen.“ „Das trifft sich, denn ich hatte ähnliches im Sinn!“ Kuno lächelte. Er lächelte glücklich wie nie zuvor. Keine Herablassung, keine Geringschätzung lag in seinem Lächeln. Warm und herzlich lächelte er.
So kam es, dass am Weihnachtsabend drei glückliche Menschen und ein
gesprächiger Papagei in Franziskas
Wohnzimmer saßen. Vor einem Weihnachtsbaum, den sie im letzten Augenblick noch
gekauft und geschmückt hatten.
Und alle drei dachten voller Dankbarkeit an den Jungen, von dem sie
sich nicht sicher waren, ob sie ihn nicht nur geträumt hatten und von dem sie
den anderen nie erzählen würden.