Was ist Ärger eigentlich? Wozu dient er – und wozu nicht? Wer ist schuld daran, dass wir ihn immer wieder erleben – und wer zwingt uns, ihm nachzugeben?
Ärger ist eine Emotion, die wir selbst heraufbeschwören – oft wider besseres
Wissen. Er bezieht sich fast immer auf ein Ereignis, das bereits vergangen ist
und sich nicht mehr ändern lässt. Und doch fühlen wir ihn mit voller Wucht.
Vielleicht trägt der Ärger sogar ein gewisses Suchtpotenzial in sich. Wie sonst
ließe sich erklären, dass fast jeder glücklich sein möchte, sich aber trotzdem
immer wieder – fast wie ferngesteuert – für den Ärger entscheidet?
„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn
nicht gefällt“, lässt Friedrich Schiller seinen Wilhelm Tell sagen.
Aber stimmt das wirklich?
Ist unser Ärger tatsächlich das Werk des „bösen Nachbarn“?
Oder sind wir es, die entscheiden, ob wir auf seinen Groll anspringen?
Stell dir folgende Szene vor:
Du sitzt entspannt in deinem Garten oder auf der Terrasse und genießt die milde
Frühlingssonne. Die Welt ist in Ordnung, dein Herz ist ruhig, und ein Lächeln
liegt auf deinem Gesicht.
Da kommt er – der „böse Nachbar“, vielleicht schlecht gelaunt. Und weil er
seinen Unmut nicht für sich behalten mag, ruft er dir etwas Unfreundliches über
den Zaun zu.
Vielleicht ist es sogar jener Nachbar, mit dem du ohnedies auf Kriegsfuß
stehst. Und plötzlich ist alles anders: Die Sonne scheint nicht mehr so warm,
dein Lächeln erstarrt, und ein unangenehmes Gefühl kriecht in deine Brust.
Du fühlst dich überrumpelt, vielleicht sogar hilflos. Der Ärger flammt auf –
als sei das die einzig mögliche, ganz natürliche Reaktion. Rachegedanken keimen
in dir. Die passende Antwort fällt dir – natürlich – viel zu spät ein.
Und der eben noch schöne Tag ist dahin.
Was ist eigentlich passiert?
Nichts. Der Tag ist noch derselbe wie vor fünf Minuten. Die Sonne scheint noch
immer. Du bist noch immer du.
Die einzige Veränderung fand in deinem Inneren statt – ein gedankliches
Konstrukt, entstanden aus deiner Bewertung der Situation.
Dein Nachbar – der, wenn man es genau nimmt, gar nicht wirklich „böse“ ist –
hat seinen eigenen Ärger, seinen Frust, vielleicht sogar seine Traurigkeit zu
einem Ball geformt und ihn dir zugeworfen.
Und du? Du hattest zwei Möglichkeiten.
Möglichkeit A: Du hättest innerlich sagen können: „Das ist dein Ärger.
Behalte ihn. Ich nehme ihn nicht an – ich brauche ihn nicht.“
Und damit wäre alles gesagt gewesen. Vielleicht hättest du ihm sogar freundlich
zugenickt – und ihn ziehen lassen mit seinem Ärger.
Möglichkeit B: Du hast den Ball gefangen.
Du bist – bildlich gesprochen – aufgesprungen, hast die Arme ausgestreckt und
gerufen: „Her damit!“
Und nun sitzt du da – mit dem Ärger, den eigentlich jemand anderer hatte. Und
der andere?
Der geht erleichtert weiter – und du bleibst zurück mit dem Ball.
Anlässe für Ärger gibt es viele.
Ein Missgeschick, das dir passiert. Eine Autopanne. Ein Freund, der zu spät –
oder gar nicht – zur Verabredung erscheint. Deine Leistung, die nicht gewürdigt
wird. Oder dein pubertierender Sohn, dessen Tonfall dich an die Decke gehen
lässt.
Je nachdem, wie sehr du gerade einen Adrenalinkick brauchst, fällt deine
Reaktion aus.
Das bedeutet: In diesem Moment agierst du nicht frei. Du folgst einem
inneren Programm, das du irgendwann gelernt hast – und immer wieder abspulst.
Ärger verbraucht enorm viel Energie. Und doch steigern wir uns oft genau
deshalb hinein – weil wir durch den Adrenalinschub kurzzeitig das Gefühl haben,
mehr Energie zur Verfügung zu haben.
Doch dieser Energieschub ist trügerisch. Und so kommt, was kommen muss: Du
brauchst ein neues Ziel, auf das du deinen „Ärgerball“ werfen kannst.
Vielleicht deinen Partner – der nur harmlos fragt, was mit dir los ist.
Das war’s dann. Er hätte besser geschwiegen. Aber nun trifft ihn dein Ärger
mit voller Wucht – bis auch er wütend wird.
Und wenn er dann so richtig in Fahrt ist – dann endlich kannst du durchatmen.
Es ist nichts weiter als geistige Umweltverschmutzung.
Sie nützt niemandem. Sie macht niemanden glücklich. Und doch wiederholen wir
das Spiel – immer und immer wieder. Warum eigentlich?
Wenn der Ärger einmal losgeht, ist es, als würde ein schlechter Film
ablaufen – einer, den man sich bis zum Ende ansieht, obwohl man ihn längst
hätte abschalten können.
Doch sobald du durchschaust, wie dieses Spiel funktioniert, ändert sich
alles.
Du erkennst deine Wahlfreiheit.
Und auf einmal wird es ganz einfach:
Ganz gleich, aus welcher Ecke der Ball kommt –
niemand kann dich zwingen, ihn zu fangen.
Und solltest du doch einmal den Ball fangen –
vergiss nicht:
Du darfst ihn jederzeit wieder zurück ins Universum werfen.
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