Diese Erzählung von Rachel
Naomi Remen finde ich besonders schön, daher möchte ich sie hier mit
euch teilen.
Der Segen meines
Großvaters
Wenn ich an den
Freitagnachmittagen nach der Schule zu meinem Großvater zu Besuch kam, dann war
in der Küche seines Hauses bereits der Tisch zum Teetrinken gedeckt. Mein
Großvater hatte seine eigene Art, Tee zu servieren. Es gab bei ihm keine
Teetassen, Untertassen oder Schalen mit Zuckerstückchen oder Honig. Er füllte
Teegläser direkt aus einem silbernen Samowar. Man musste zuerst einen Teelöffel
in das Glas stellen, denn sonst hätte das dünne Glas zerspringen können. Mein
Großvater trank seinen Tee auch nicht so, wie es die Eltern meiner Freunde
taten. Er nahm immer ein Stück Zucker zwischen die Zähne und trank dann den
ungesüßten heißen Tee aus dem Glas. Und ich machte es wie er. Diese Art, Tee zu
trinken, gefiel mir viel besser als die Art, auf die ich meinen Tee zu Hause
trinken musste. Wenn wir unseren Tee ausgetrunken hatten, stellte mein
Großvater stets zwei Kerzen auf den Tisch und zündete sie an. Dann wechselte er
auf Hebräisch einige Worte mit Gott. Manchmal sprach er diese Worte laut aus,
aber meist schloss er einfach die Augen und schwieg. Dann wusste ich, dass er
in seinem Herzen mit Gott sprach. Ich saß da und wartete geduldig, denn ich
wusste, jetzt würde gleich der beste Teil der Woche kommen.
Wenn Großvater damit fertig war, mit Gott zu sprechen, dann wandte er sich mir
zu und sagte:
,,Komm her, Neshumele." Ich
baute mich dann vor ihm auf, und er legte mir sanft die Hände auf den Scheitel.
Dann begann er stets, Gott dafür zu danken, dass es mich gab und dass er ihn
zum Großvater gemacht hatte. Er sprach dann immer irgendwelche Dinge an, mit
denen ich mich im Verlauf der Woche herumgeschlagen hatte, und erzählte Gott
etwas Echtes über mich. Jede Woche wartete ich bereits darauf, zu erfahren, was
es diesmal sein würde. Wenn ich während der Woche irgendetwas angestellt hatte,
dann lobte er meine Ehrlichkeit, darüber die Wahrheit gesagt zu haben. Wenn mir
etwas misslungen war, dann brachte er seine Anerkennung darüber zum Ausdruck,
wie sehr ich mich bemüht hatte. Wenn ich auch nur kurze Zeit ohne das Licht
meiner Nachttischlampe geschlafen hatte, dann pries er meine Tapferkeit, im
Dunkeln zu schlafen. Und dann gab er mir seinen Segen und bat die Frauen aus
ferner Vergangenheit, die ich aus seinen Geschichten kannte - Sara, Rahel,
Rebekka und Lea -, auf mich aufzupassen.
Diese kurzen Momente waren in meiner ganzen Woche die einzige Zeit, in der ich
mich völlig sicher und in Frieden fühlte. In meiner Familie von Ärzten und
Krankenschwestern rang man unablässig darum, noch mehr zu lernen und noch mehr
zu sein. Da gab es offenbar immer noch etwas mehr, das man wissen musste. Es
war nie genug. Wenn ich nach einer Klassenarbeit mit einem Ergebnis von 98 von
100 Punkten nach Hause kam, dann fragte mein Vater: ,,Und was ist mit den
restlichen zwei Punkten?" Während meiner gesamten Kindheit rannte ich unablässig
diesen zwei Punkten hinterher. Aber mein Großvater scherte sich nicht um solche
Dinge. Für ihn war mein Dasein allein schon genug. Und wenn ich bei ihm war,
dann wusste ich irgendwie, mit absoluter Sicherheit, dass er Recht hatte.
Mein Großvater starb, als ich sieben Jahre alt war. Ich hatte bis dahin nie in
einer Welt gelebt, in der es ihn nicht gab, und es war schwer für mich, ohne
ihn zu leben. Er hatte mich auf eine Weise angesehen, wie es sonst niemand tat,
und er hatte mich bei einem ganz besonderen Namen genannt -
"Neshumele", was "geliebte kleine Seele" bedeutet. Jetzt
war niemand mehr da, der mich so nannte. Zuerst hatte ich Angst, dass ich, wenn
er mich nicht mehr sehen und Gott erzählen würde, wer ich war, einfach
verschwinden würde. Aber mit der Zeit begann ich zu begreifen, dass ich auf
irgendeine geheimnisvolle Weise gelernt hatte, mich durch seine Augen zu sehen.
Und dass einmal gesegnet worden zu sein heißt, für immer gesegnet zu sein.
Viele Jahre später, als meine Mutter im hohen Alter überraschenderweise begann,
selbst Kerzen anzuzünden und mit Gott zu sprechen, erzählte ich ihr von diesen
Segnungen und was sie mir bedeutet hatten. Da lächelte sie traurig und sagte zu
mir: „Ich habe dich an jedem Tag deines Lebens gesegnet, Rachel. Ich habe nur
nicht die Weisheit besessen, es laut auszusprechen.“
von Rachel Naomi
Remen
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