Samstag, 15. November 2025

Wähle, was du sein willst

In meinen ersten Schuljahren hatte ich eine Religionslehrerin, die uns folgende Lehre mit auf den Weg gab:
Es gibt zwei Arten von Wut.

Eine gute Wut – das war die, die sie regelmäßig gegen uns Kinder hegte.
Sie war in ihren Augen gerecht, denn wir hätten sie verdient.
Eine „gottgewollte“ Wut.
Um nicht zu sagen, eine „heilige“ Wut.

Und dann gab es die schlechte Wut – eine Sünde.
Das war jene, die wir Kinder manchmal empfanden.
Ungerechtfertigt. Unangemessen. Kleingeistig. 
Auf Gottes „Strafenliste“ ziemlich weit oben angesiedelt.

Dieses Muster begegnet mir immer wieder.
Viele Menschen empfinden Zorn, Wut, Abneigung, Hass. Und weil sie sicher sind, das Objekt ihrer Gefühle trage die Schuld daran, glauben sie, ein Recht darauf zu haben.
Und worauf man ein Recht hat, das darf man ungestraft beanspruchen.

Ich bin wütend – und du bist schuld.
Ich hasse dich – aber das musst du ertragen, denn du hast es provoziert.
Ich fühle Zorn – und das ist nur gerecht, denn du verdienst ihn.

Nur selten stellen wir uns die entscheidende Frage:
Hilft mir diese Emotion?
Bringt sie mich weiter?
Heilt sie etwas – in mir oder in anderen?
Verbessert sie mein Leben in irgendeiner Form?

Jemand hat mich verletzt.
Vielleicht sogar misshandelt.
Und anstatt mich jetzt selbst liebevoll zu halten –
mit Achtung, Würde und Mitgefühl –
fülle ich meinen Körper, meinen Geist und meine Seele mit Rachegedanken.
Mit Hass.
Mit der Unfähigkeit loszulassen.

Ich nehme Wut und Hass in Besitz, als wären sie ein Recht, das nicht hinterfragt werden darf.

Doch mit dem Hass ist es ebenso wie mit der Liebe.

Liebe – in ihrer reinsten Form – richtet sich nicht auf ein Objekt.
Sie ist.
Ein Seinszustand.
Wenn wir Liebe sind, baden wir selbst in dieser Liebe.
Und das erlaubt Heilung.

Und Hass wirkt ebenso –
nicht nur nach außen.
Auch nach innen.
Er ist kein Pfeil. Er ist ein Feld.
Ebenso wie die Liebe - ein Seinszustand.

Er ergießt sich über alles –
auch über uns selbst.

Und genau hier liegt unsere Chance für Wachstum.

Natürlich darf auch unsere Wut da sein. Aber wir müssen sie nicht verherrlichen. Wir müssen nicht unseren Hass kultivieren.

Wir handeln weiser, wenn wir uns nicht auf unser Recht auf Rache berufen, sondern auf die Fähigkeit zur Umwandlung.
Darauf, dass es möglich ist, aus einem inneren Zustand der Liebe zu handeln – selbst, wenn der andere nicht alles richtig gemacht hat.

Wir können nicht gleichzeitig lieben und hassen.
Nicht diesen lieben und jenen hassen.
Wir müssen uns entscheiden:
Was wollen wir sein?

Liebe?
Oder Hass?

Ich denke, diese Entscheidung sollte uns nicht allzu schwerfallen.

 



Dienstag, 11. November 2025

Wenn du gehst…

Auch wenn der ein oder andere von uns nicht an die Unausweichlichkeit des Todes glaubt, weil es unwahrscheinlich – ja geradezu unmöglich – erscheint, dass diese Form des Verlustes und des Schmerzes gottgewollt sein könnte, sind wir immer wieder mit Verlust konfrontiert.

Wenn ein Mensch, den wir lieben, diese Existenzform – die einzige uns wirklich bekannte – hinter sich lässt, müssen wir nicht nur mit dem Verlust, mit der Trauer klarkommen, sondern häufig auch mit Schuldgefühlen und dem Empfinden, etwas versäumt zu haben. Etwas nicht gesagt zu haben, das wichtig gewesen wäre. Etwas nicht getan zu haben.
Manchmal glauben wir sogar, ein anderes Verhalten hätte den Lauf der Dinge ändern können.
Doch das ist nicht so. Jede Seele geht den Weg, den sie selbst wählt.

Was wir jedoch tun können, ist, ihr liebevolle Worte des Segens mit auf den Weg zu geben:


Für dich

Möge dein Weg Licht sein,

sanft wie der erste Sonnenstrahl am frühen Morgen.

Möge jedes Wort der Liebe, das du je gesprochen oder empfangen hast,

dich tragen durch das Weite, durch das Leichte, das nun deine Heimat ist.

Möge deine Seele lachen, und jubeln, frei von Schmerz, frei von Schwere.

Möge dein Name in den Herzen derer, die dich lieben, nicht verblassen,

sondern Erinnerung sein – liebevoll und warm.

Und möge dein unvergängliches, göttliches Sein erkennen, was es in Wahrheit ist –

ein ewiger Tanz aus Licht und Freude.


Möge dieser Segen dich erreichen - leise wie ein Flügelschlag,
lichtvoll wie das, woraus du gemacht bist.
Denn nichts vergeht, was aus Licht geboren wurde.




Donnerstag, 6. November 2025

Die Geschichte, die wir über uns erzählen

Wir tragen nicht nur Erinnerungen in uns – wir tragen Geschichten. Sätze, die wir über uns selbst sagen, glauben und wiederholen. Manche stammen aus der Kindheit, andere haben wir selbst erfunden. 

Alles, was wir über uns zu wissen glauben – was wir über uns erzählen –, sind solche Geschichten, und wir alle tragen sie mit uns herum.

Keine Lebensgeschichte, sondern eine Ich-Geschichte.
Die Geschichte, die wir immer wieder erzählen. Nicht nur anderen – auch uns selbst.
Wir zeichnen ein Bild von uns, an das wir felsenfest glauben – und an dem wir festhalten.

„Ich bin eben so.“
„Das mag ich – das nicht.“
„Das kann ich, und das kann ich nicht.“
„Das halte ich nicht aus.“
„Ich bin ein Einzelgänger.“
„Ich bin kein Sympathieträger.“
„Ich nehme so schnell zu.“
„Ich fühle mich in Gruppen nicht wohl.“
„Ich bin anfällig für diese oder jene Krankheit.“

Ich lernte mit acht Jahren die Geschichte:

Wenn man sprachlich begabt ist, ist man automatisch schlecht in Mathematik. In beidem gut zu sein – das geht gar nicht.

Dieser Satz sollte mich nicht entmutigen, sondern trösten.
Ich war nie schlecht in Mathematik – aber meine mathematischen Fähigkeiten konnten mit meinen sprachlichen nicht mithalten.
Also speicherte ich: Sprache gut – Mathe schlecht. Punkt. Keine Diskussion.

Ich lernte, dass ich keinen Orientierungssinn habe.
Dass ich mich verlaufe. Immer.
Und irgendwann begann ich, genau das zu erzählen. Wieder und wieder.
Bis es eine unumstößliche Wahrheit wurde – zumindest in meinem Kopf.

Irgendwann begann ich, diese Geschichte zu hinterfragen.
Und ich stellte fest: Ich hatte bislang immer dorthin gefunden, wohin ich wollte – und auch wieder zurück.
Sonst wäre ich jetzt nicht hier.

Natürlich gibt es auch Geschichten, die ich selbst erfunden habe.
Zum Beispiel die Geschichte, dass ich kein „Gruppenmensch“ bin.
Dass ich niemals mit einer Gruppe fremder, halb bekannter oder sogar vertrauter Menschen verreisen könnte.
Oder die Geschichte, dass ich mich eher zurückziehe, als mich einem Konflikt auszusetzen.
(Das gilt allerdings nicht innerhalb der Familie. Dort kann ich Konflikte sogar provozieren – ziemlich gekonnt, um ehrlich zu sein.
😉)

Was steht hinter solchen Geschichten?
Angst?
Unsicherheit?
Schutzmechanismen?
Bequeme Ausflüchte?
Ausreden?
Oder eine trügerische Sicherheit, die wir in unserer Selbstdefinition finden?

So sind wir eben, sagen wir. Darauf können wir uns verlassen.
Daran gibt es nichts zu rütteln.

Aber ist das wirklich wahr?
Woher stammen diese Sätze?
Von Eltern, Lehrern, Partnern, Freunden – oder von früheren Versionen unserer selbst?

Oder haben wir sie erfunden, um uns eine Rolle zu geben, in der wir uns sicher fühlen?

Wir sagen so oft:

„Ich bin …“

Und wir glauben es.
Gar nicht ungefährlich, dieses Spiel.
Denn dieses Ich bin wirkt wie ein Mantra.
Es ist die Geschichte, die wir für wahr halten – und leben.

Sie entbindet uns scheinbar von der Notwendigkeit, zu lernen, uns zu entwickeln, uns zu verändern.
Zu glauben, dass wir etwas sind, hält uns klein.
Es verschließt uns die Freiheit, in jedem Moment neu zu entscheiden, wer wir sein wollen.

Vielleicht ist es Zeit, diese alten Geschichten zu hinterfragen – und sie loszulassen.
Vielleicht ist es Zeit, neue Geschichten zu erzählen.
Geschichten, die uns wachsen lassen. Geschichten, die atmen.
Geschichten, die uns von alten Begrenzungen befreien.

Vielleicht sind wir gar nicht so.
Vielleicht ist „So bin ich eben“ nur ein alter Mantel, den wir irgendwann angezogen haben – und der uns längst zu klein geworden ist.

Vielleicht sind wir ganz anders.
Erzählen wir doch eine neue Geschichte – eine, die uns nicht begrenzt, sondern lebendig macht.

Denn manchmal reicht ein einziger neuer Satz –
und unser ganzes Leben beginnt anders zu erzählen.

 


Samstag, 1. November 2025

Die Wirklichkeit ist auch nicht mehr das, was sie mal war

Falls du heute auf jemanden getroffen bist, der dich auf die Palme gebracht hat:
Herzlichen Glückwunsch. Du hast ihn selbst erfunden.

Zumindest, wenn man Robert Scheinfeld glauben mag.
Der nämlich sagt: Jeder Mensch, der in deinem Hologramm auftaucht, ist zu 100 % deine eigene Kreation.
Ob du willst oder nicht.

Sollten wir da nicht ernsthaft über unsere Schöpfungsprozesse nachdenken,
wenn selbst der nervige Nachbar auf unserem Mist gewachsen sein soll?

Und unweigerlich stellt sich die Frage:
Wer von den 8 Milliarden Mitbewohnern dieser Erde hat eigentlich noch einen eigenen Willen,
wenn wir alle nur gegenseitige Manifestationen sind?

Das klingt erst einmal ziemlich verrückt –
und widerspricht allem, was wir über die Eigenständigkeit anderer Menschen gelernt haben.

Aber wenn man genauer hinschaut,
öffnet sich eine spannende Perspektive.

Dazu müssen wir in ein Weltbild eintauchen,
über das wir uns selten bewusst Gedanken machen –
das aber in Wahrheit ständig in uns wirkt:
unser eigenes Bild von Wirklichkeit.

Denn wer ist der nervige Nachbar wirklich?
Wir wissen nur, dass er in unserem Weltbild der nervige Nachbar ist.
Wer er außerhalb dieses Bildes ist – das wissen wir nicht.

Wir sehen ihn nur durch unsere Linse.
So, wie wir auch uns selbst nur durch unsere eigenen Filter kennen.

Und wir haben keine Ahnung,
für wie viele Menschen wir selbst vielleicht der nervige Nachbar sind.


Paul Watzlawick bringt es in seinem Buch Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ auf den Punkt:
Wirklich ist nicht das, was tatsächlich ist – sondern das, was wir für wirklich halten.

Unsere Weltsicht ist geprägt durch Erziehung, Erfahrung, Erwartungen,
Glaubensmuster und kulturelle Vorgaben.
Und wenn wir dann Menschen finden, die unsere Sicht teilen,
glauben wir: Jetzt ist es bewiesen.

Drei Nachbarn, die unsere Meinung über den vierten teilen –
und schon ist eine „Wahrheit“ geboren.

So konstruieren wir unsere Wahrnehmung –
und merken oft gar nicht,
wie schnell wir uns in selbstgebauten Überzeugungen verfangen.

Und wie schwer es ist, da wieder rauszukommen –
oder überhaupt zu bemerken,
dass wir in einem Konstrukt leben.


Wahr ist, was wir für wahr halten.
Und was wir für wahr halten, denken wir uns selbst aus.
Kurz gesagt: Wir sind ein Bewusstsein, das sich seine Welt baut.

Gerade deshalb lohnt es sich, immer wieder einen Schritt zurückzutreten:
unsere Perspektive zu hinterfragen,
andere Sichtweisen einzubeziehen,
und uns auf offenen Dialog einzulassen.

Dann erweitern wir nicht nur unser eigenes Verständnis –
sondern auch unsere Fähigkeit zur Toleranz, zur Empathie, zum Miteinander.

Und vielleicht entsteht so eine Welt,
in der der Nachbar irgendwann aufhört, nervig zu sein –
und einfach nur ein Mensch ist.
Genau wie wir.