Mittwoch, 28. November 2012

Weisheit aus China

Solange du dem anderen sein Anderssein 
nicht verzeihen kannst, 
bist du noch weit ab vom Weg der Weisheit!


Mittwoch, 1. August 2012

Die Steckbuchstaben

Sie saß in einem eleganten grauen Seidenkleid neben ihm im Landrover, ein schwungvoller Hut derselben Farbe zierte ihr Haupt. Janosch warf ihr mehrfach verstohlene Blicke zu, öffnete den Mund, um ein Gespräch zu beginnen – und schloss ihn wieder. Ihre distanzierte Vornehmheit schüchterte ihn ein. Und so schwieg er.

Er war in diesem Dorf geboren, aufgewachsen zwischen Kühen, Schafen und Pferden, umgeben von bodenständigen Frauen mit festen Händen und herzlichem Lachen. Doch dieses zarte, graue Geschöpf auf dem Beifahrersitz – es wirkte auf ihn wie eine verlorengegangene Flaumfeder.

Wie alt mochte sie sein? Sechzig? Oder schon siebzig?
Er sah sie unsicher an.
Sie bemerkte seinen Blick – und schenkte ihm ein gnädiges Lächeln.

Endlich wagte er es, das Gespräch zu beginnen.
„Es ist heiß heute“, murmelte er, „und der Weg von der Bahnstation ins Dorf ist weit.“

Sie nickte zustimmend. „Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich abgeholt haben. Der Weg zu Fuß hätte mir Mühe bereitet.“

Janosch wusste nicht recht, was er darauf sagen sollte – doch das war auch nicht nötig. Denn sie sprach gleich weiter, ohne Pause:

„Sie müssen wissen, zweimal im Jahr mache ich eine Reise. Im Frühling fahre ich in die Berge, und im Herbst verbringe ich meinen Urlaub auf einem Bauernhof. Das ist mir zu einer lieben Gewohnheit geworden. Zu Hause führe ich ein sehr einfaches Leben – seit Oskar tot ist.“

Janosch nickte verständnisvoll. Was ein einfaches Leben bedeutete, das wusste er nur zu gut.

„Oberregierungsrat Oskar Zimmermann war mein Mann“, erzählte sie weiter.
„Ich nannte ihn Herzi – eine persönliche Abkürzung für Herr Zimmermann.“

Janosch verstand den Zusammenhang nicht ganz, beschloss aber, es auf alle Fälle gut zu finden.

„Er starb vor acht Jahren“, fügte sie hinzu – und schwieg.

Sie sah ihn auffordernd an. Janosch öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es fiel ihm nichts ein.
Ein Beileid nach acht Jahren auszusprechen, erschien ihm irgendwie lächerlich.

Also wartete er – aber sie schwieg beharrlich weiter.

Unruhe stieg in ihm auf. Nervosität. Schließlich murmelte er rasch und undeutlich:
„Mein Beileid.“

„Danke“, erwiderte sie hoheitsvoll – und fuhr fort.

„Er war ein guter Mann, mein Oskar. Es gibt so viele schlechte Menschen auf dieser Welt – aber ausgerechnet mein Oskar musste sterben.“

Sie sah Janosch an, als trage er Mitschuld, und er zog instinktiv den Kopf ein.

„Es sterben immer die Guten“, sagte sie langsam, mit Nachdruck. „Das hat mein Oskar nicht verdient.“

„Die Schlechten sterben auch“, wagte Janosch leise einzuwenden, doch sie überhörte ihn konsequent.

Ein kurzer, missbilligender Blick – dann sprach sie weiter:

„Mein Oskar war ein gebildeter Mann. Schließlich war er Oberregierungsrat. Das stand auch auf dem Türschild seines Arbeitszimmers im Ministerium – kleine weiße Steckbuchstaben auf schwarzem Grund.“

Sie lächelte versonnen bei der Erinnerung.

„Ja“, fuhr sie fort, „doch dann kam dieser unheilvolle Tag. Die Wirtschaft stagnierte seit geraumer Zeit – überall wurde gespart. Sogar bei den Steckbuchstaben im Ministerium.

Eines Morgens wurden sämtliche überflüssigen Buchstaben abmontiert und eingesammelt.

Und plötzlich stand an Oskars Tür nur noch sein Name – in nüchternen Großbuchstaben: OSKAR ZIMMERMANN.

Das hat ihm das Herz gebrochen.“

In Janoschs Kopf arbeitete es.

Er konnte die Tragweite dieser Veränderung kaum begreifen.

An seiner eigenen Haustür stand überhaupt kein Name – die Vorstellung, dort weiße Steckbuchstaben anzubringen, schien ihm absurd.

JANOSCH DAMPFHOFER – in Großbuchstaben!

Seine Frau Theres hätte ihn wohl für narrisch erklärt.

Die graue Flaumfeder-Frau sah ihn an und seufzte leise.

„Er hatte so wenig Freude im Leben. Nur seine Arbeit, unseren Rehpinscher Kaiser Wilhelm – und mich. Und dann waren da noch seine Steckbuchstaben.“

Sie hielt kurz inne.

„An jenem Morgen kam er wie immer pünktlich ins Ministerium. Doch auf dem Schild an seiner Bürotür stand plötzlich nur noch sein Name.

Die Buchstaben für Oberregierungsrat – einfach abmontiert.

Er stand da. Lange. Starrte das Schild an, als wollte er es mit seinem Blick wieder ganz machen.

Dann liefen ihm Tränen übers Gesicht.“

Janosch spürte, wie ihn das Bild traf – nicht wegen der Buchstaben, sondern wegen der Tränen.

„Er drehte sich um und ging nach Hause.

Und von da an, Janosch – von da an ging es mit ihm bergab.

Er ging zwar weiter ins Ministerium, Tag für Tag, pflichtbewusst wie immer.

Aber er war nicht mehr derselbe.“

„Ich kochte ihm täglich sein Lieblingsessen.

Ich lud seine alten Freunde ein, veranstaltete kleine Feste – sogar einen guten Psychotherapeuten suchte ich ihm.

Ich bastelte Transparente, mit denen er vor dem Ministerium demonstrieren konnte. Gegen die willkürliche Entfernung der Steckbuchstaben, weißt du?

Und ich kaufte ihm ein kleines Schild für unsere Schlafzimmertür – mit neuen Buchstaben: OBERREGIERUNGSRAT OSKAR ZIMMERMANN.

Aber nichts davon konnte ihn wirklich trösten.“

Sie blickte aus dem Fenster, als suchte sie dort seine verlorene Würde.

„Ach Janosch, ich hätte mein Leben gegeben, wenn ich ihm dadurch sein Schild im Ministerium wiedergeben hätte können.“

Ihre Stimme wurde weicher.

„Als ich ihm das sagte, sah er mich mit Tränen in den Augen an: ‚Das würdest du für mich tun, Adele? Das würdest du wirklich für mich tun? Eine größere Freude könntest du mir nicht machen…‘

Ja, so war er, mein Oskar. So leicht zu erfreuen.

Wie ein Kind.“

Janosch kratzte sich am Kopf. In seinem Inneren wirbelten die Worte der Dame durcheinander – er versuchte, das Gehörte zu ordnen, doch es wollte sich einfach nicht fügen.
„Irgendwann hörte er auf, zur Arbeit zu gehen“, fuhr sie fort. „Stattdessen machte er lange, einsame Spaziergänge mit Kaiser Wilhelm. Viele Stunden am Tag.“
Sie seufzte leise.
„Kaiser Wilhelm war ein kleiner, zarter Hund – ein Rehpinscher mit schwacher Lunge. Die Strapazen dieser Wanderungen waren zu viel für ihn. Er starb an Erschöpfung. Und Oskar wurde noch ein wenig stiller. Von da an ging er allein.“

Janosch schüttelte ungläubig den Kopf. „Und das alles  wegen dieser Steckbuchstaben?“
Die graue Dame nickte langsam.
„Adele…“, hatte er oft gesagt, „…mein ganzes Leben habe ich dem Ministerium gewidmet. Dem Staat treu gedient. In Ehren Oberregierungsrat geworden. Und nun bin ich ihnen nicht einmal mehr ein paar Buchstaben wert.“
„Eine Affenschande ist das“, murmelte Janosch. Er schüttelte erneut den Kopf – weniger aus Empörung als aus Verwirrung. Denn wirklich begriffen hatte er es immer noch nicht.

„Und eines Tages starb er dann“, fuhr sie fort. „Ganz still. Ohne Aufsehen. Er legte sich einfach hin – und starb.“
Sie machte eine Pause. „Und schuld war das Ministerium.“
Ihr Blick wurde nachdenklich. „Als ich dann um eine Entschädigung ersuchte – für den frühen Tod meines Oskars – wies man mich brüsk ab. Niemand wollte etwas davon wissen, dass man ihn mit dem Entzug seiner Steckbuchstaben langsam und unaufhaltsam in den Tod getrieben hatte.“
Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust.

„Er ist wirklich wegen dieser Steckbuchstaben gestorben?“ Janosch starrte sie fassungslos an. Fast hätte er dabei das Lenkrad verrissen.
„Ja“, erwiderte sie mit Nachdruck. „Er hatte eben Prinzipien!“
Mit ernster Miene nickte sie mehrmals. „Und auf seinem Grabstein – ganz in Goldbuchstaben – steht nun:
OBERREGIERUNGSRAT OSKAR ZIMMERMANN.“

Die kann ihm nun ja wohl keiner mehr wegnehmen“, murmelte Janosch mitfühlend. Ihm war diese ganze Buchstabengeschichte zwar immer noch nicht verständlich, aber langsam in seinem Hinterkopf begann er zu begreifen, wie einsam ein Mensch sein musste, dessen Lebensinhalt das Ministerium, diese graue Frau, der Rehpinscher Kaiser Wilhelm – und diese Steckbuchstaben waren.

Er dachte an seine eigene Welt – an all die Mühen, die ihn oft zermürbten, an Theres, seine Frau, deren Durchsetzungsvermögen er schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit fürchtete, die aber auf ihre ruppige Weise zu ihm gehörte wie der Stall zum Hof.
Er dachte an seine Kinder, seine Freunde, an all die Menschen, die sein Leben belebten, herausforderten, nervten – und beschenkten.

Und plötzlich stieg etwas in ihm auf, das er lange nicht mehr gespürt hatte: Dankbarkeit.
Dankbarkeit dafür, dass sein Leben  niemals  an ein paar nicht vorhandenen „Steckbuchstaben“ scheitern würde.  Und Dankbarkeit für jedes Problem, das er lösen konnte, ohne sich dafür hinlegen und sterben zu müssen.

Er wandte den Blick von der Straße kurz zu der Frau neben sich.
Er sah ihre gepflegte Blässe, ihren Hut, ihre verblichene Würde –
und dann lächelte er. Ein warmes, leises, verstehendes Lächeln.

Und lächelnd fuhr er die letzten Meter bis zu seinem Hof.