Sie saß in einem eleganten grauen
Seidenkleid neben ihm im Landrover, ein schwungvoller Hut derselben Farbe
zierte ihr Haupt. Janosch warf ihr mehrfach verstohlene Blicke zu, öffnete den
Mund, um ein Gespräch zu beginnen – und schloss ihn wieder. Ihre distanzierte
Vornehmheit schüchterte ihn ein. Und so schwieg er.
Er war in diesem Dorf geboren,
aufgewachsen zwischen Kühen, Schafen und Pferden, umgeben von bodenständigen
Frauen mit festen Händen und herzlichem Lachen. Doch dieses zarte, graue
Geschöpf auf dem Beifahrersitz – es wirkte auf ihn wie eine verlorengegangene
Flaumfeder.
Wie alt mochte sie sein? Sechzig?
Oder schon siebzig?
Er sah sie unsicher an.
Sie bemerkte seinen Blick – und schenkte ihm ein gnädiges Lächeln.
Endlich wagte er es, das Gespräch
zu beginnen.
„Es ist heiß heute“, murmelte er, „und der Weg von der Bahnstation ins Dorf ist
weit.“
Sie nickte zustimmend. „Ich bin
Ihnen dankbar, dass Sie mich abgeholt haben. Der Weg zu Fuß hätte mir Mühe
bereitet.“
Janosch wusste nicht recht, was
er darauf sagen sollte – doch das war auch nicht nötig. Denn sie sprach gleich
weiter, ohne Pause:
„Sie müssen wissen, zweimal im
Jahr mache ich eine Reise. Im Frühling fahre ich in die Berge, und im Herbst
verbringe ich meinen Urlaub auf einem Bauernhof. Das ist mir zu einer lieben
Gewohnheit geworden. Zu Hause führe ich ein sehr einfaches Leben – seit Oskar
tot ist.“
Janosch nickte verständnisvoll.
Was ein einfaches Leben bedeutete, das wusste er nur zu gut.
„Oberregierungsrat Oskar
Zimmermann war mein Mann“, erzählte sie weiter.
„Ich nannte ihn Herzi – eine persönliche Abkürzung für Herr Zimmermann.“
Janosch verstand den Zusammenhang
nicht ganz, beschloss aber, es auf alle Fälle gut zu finden.
„Er starb vor acht Jahren“, fügte
sie hinzu – und schwieg.
Sie sah ihn auffordernd an.
Janosch öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es fiel ihm nichts ein.
Ein Beileid nach acht Jahren auszusprechen, erschien ihm irgendwie lächerlich.
Also wartete er – aber sie
schwieg beharrlich weiter.
Unruhe stieg in ihm auf.
Nervosität. Schließlich murmelte er rasch und undeutlich:
„Mein Beileid.“
„Danke“, erwiderte sie
hoheitsvoll – und fuhr fort.
„Er war ein guter Mann, mein
Oskar. Es gibt so viele schlechte Menschen auf dieser Welt – aber ausgerechnet
mein Oskar musste sterben.“
Sie sah Janosch an, als trage er
Mitschuld, und er zog instinktiv den Kopf ein.
„Es sterben immer die Guten“,
sagte sie langsam, mit Nachdruck. „Das hat mein Oskar nicht verdient.“
„Die Schlechten sterben auch“,
wagte Janosch leise einzuwenden, doch sie überhörte ihn konsequent.
Ein kurzer, missbilligender Blick
– dann sprach sie weiter:
„Mein Oskar war ein gebildeter
Mann. Schließlich war er Oberregierungsrat. Das stand auch auf dem Türschild
seines Arbeitszimmers im Ministerium – kleine weiße Steckbuchstaben auf
schwarzem Grund.“
Sie lächelte versonnen bei der
Erinnerung.
„Ja“, fuhr sie fort, „doch dann
kam dieser unheilvolle Tag. Die Wirtschaft stagnierte seit geraumer Zeit –
überall wurde gespart. Sogar bei den Steckbuchstaben im Ministerium.
Eines Morgens wurden sämtliche
überflüssigen Buchstaben abmontiert und eingesammelt.
Und plötzlich stand an Oskars Tür
nur noch sein Name – in nüchternen Großbuchstaben: OSKAR ZIMMERMANN.
Das hat ihm das Herz gebrochen.“
In Janoschs Kopf arbeitete es.
Er konnte die Tragweite dieser
Veränderung kaum begreifen.
An seiner eigenen Haustür stand
überhaupt kein Name – die Vorstellung, dort weiße Steckbuchstaben anzubringen,
schien ihm absurd.
JANOSCH DAMPFHOFER – in
Großbuchstaben!
Seine Frau Theres hätte ihn wohl
für narrisch erklärt.
Die graue Flaumfeder-Frau sah ihn
an und seufzte leise.
„Er hatte so wenig Freude im
Leben. Nur seine Arbeit, unseren Rehpinscher Kaiser Wilhelm – und mich. Und
dann waren da noch seine Steckbuchstaben.“
Sie hielt kurz inne.
„An jenem Morgen kam er wie immer
pünktlich ins Ministerium. Doch auf dem Schild an seiner Bürotür stand
plötzlich nur noch sein Name.
Die Buchstaben für Oberregierungsrat – einfach abmontiert.
Er stand da. Lange. Starrte das
Schild an, als wollte er es mit seinem Blick wieder ganz machen.
Dann liefen ihm Tränen übers
Gesicht.“
Janosch spürte, wie ihn das Bild
traf – nicht wegen der Buchstaben, sondern wegen der Tränen.
„Er drehte sich um und ging nach
Hause.
Und von da an, Janosch – von da
an ging es mit ihm bergab.
Er ging zwar weiter ins
Ministerium, Tag für Tag, pflichtbewusst wie immer.
Aber er war nicht mehr derselbe.“
„Ich kochte ihm täglich sein
Lieblingsessen.
Ich lud seine alten Freunde ein,
veranstaltete kleine Feste – sogar einen guten Psychotherapeuten suchte ich
ihm.
Ich bastelte Transparente, mit
denen er vor dem Ministerium demonstrieren konnte. Gegen die willkürliche
Entfernung der Steckbuchstaben, weißt du?
Und ich kaufte ihm ein kleines
Schild für unsere Schlafzimmertür – mit neuen Buchstaben: OBERREGIERUNGSRAT OSKAR ZIMMERMANN.
Aber nichts davon konnte ihn
wirklich trösten.“
Sie blickte aus dem Fenster, als
suchte sie dort seine verlorene Würde.
„Ach Janosch, ich hätte mein
Leben gegeben, wenn ich ihm dadurch sein Schild im Ministerium wiedergeben
hätte können.“
Ihre Stimme wurde weicher.
„Als ich ihm das sagte, sah er
mich mit Tränen in den Augen an: ‚Das
würdest du für mich tun, Adele? Das würdest du wirklich für mich tun? Eine
größere Freude könntest du mir nicht machen…‘
Ja, so war er, mein Oskar. So
leicht zu erfreuen.
Wie ein Kind.“
Janosch kratzte sich am Kopf. In
seinem Inneren wirbelten die Worte der Dame durcheinander – er versuchte, das
Gehörte zu ordnen, doch es wollte sich einfach nicht fügen.
„Irgendwann hörte er auf, zur Arbeit zu gehen“, fuhr sie fort. „Stattdessen
machte er lange, einsame Spaziergänge mit Kaiser Wilhelm. Viele Stunden am
Tag.“
Sie seufzte leise.
„Kaiser Wilhelm war ein kleiner, zarter Hund – ein Rehpinscher mit schwacher
Lunge. Die Strapazen dieser Wanderungen waren zu viel für ihn. Er starb an
Erschöpfung. Und Oskar wurde noch ein wenig stiller. Von da an ging er allein.“
Janosch schüttelte ungläubig den Kopf. „Und das alles wegen dieser Steckbuchstaben?“
Die graue Dame nickte langsam.
„Adele…“, hatte er oft gesagt, „…mein ganzes Leben habe ich dem Ministerium
gewidmet. Dem Staat treu gedient. In Ehren Oberregierungsrat geworden. Und nun
bin ich ihnen nicht einmal mehr ein paar Buchstaben wert.“
„Eine Affenschande ist das“, murmelte Janosch. Er schüttelte erneut den Kopf –
weniger aus Empörung als aus Verwirrung. Denn wirklich begriffen hatte er es
immer noch nicht.
„Und eines Tages starb er dann“, fuhr sie fort. „Ganz still.
Ohne Aufsehen. Er legte sich einfach hin – und starb.“
Sie machte eine Pause. „Und schuld war das Ministerium.“
Ihr Blick wurde nachdenklich. „Als ich dann um eine Entschädigung ersuchte – für
den frühen Tod meines Oskars – wies man mich brüsk ab. Niemand wollte etwas
davon wissen, dass man ihn mit dem Entzug seiner Steckbuchstaben langsam und
unaufhaltsam in den Tod getrieben hatte.“
Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust.
„Er ist wirklich
wegen dieser Steckbuchstaben gestorben?“ Janosch starrte sie fassungslos an.
Fast hätte er dabei das Lenkrad verrissen.
„Ja“, erwiderte sie mit Nachdruck. „Er hatte eben Prinzipien!“
Mit ernster Miene nickte sie mehrmals. „Und auf seinem Grabstein – ganz in
Goldbuchstaben – steht nun:
OBERREGIERUNGSRAT OSKAR ZIMMERMANN.“
„Die kann
ihm nun ja wohl keiner mehr wegnehmen“, murmelte Janosch
mitfühlend. Ihm war diese ganze Buchstabengeschichte zwar immer noch nicht
verständlich, aber langsam in seinem Hinterkopf begann er zu begreifen, wie
einsam ein Mensch sein musste, dessen Lebensinhalt das Ministerium, diese graue
Frau, der Rehpinscher Kaiser Wilhelm – und diese Steckbuchstaben waren.
Er dachte an seine eigene Welt –
an all die Mühen, die ihn oft zermürbten, an Theres, seine Frau, deren
Durchsetzungsvermögen er schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit fürchtete, die
aber auf ihre ruppige Weise zu ihm gehörte wie der Stall zum Hof.
Er dachte an seine Kinder, seine Freunde, an all die Menschen, die sein Leben
belebten, herausforderten, nervten – und beschenkten.
Und plötzlich stieg etwas in ihm auf, das er lange nicht
mehr gespürt hatte: Dankbarkeit.
Dankbarkeit dafür,
dass sein Leben niemals an ein paar nicht vorhandenen
„Steckbuchstaben“ scheitern würde. Und
Dankbarkeit für jedes Problem, das er lösen konnte, ohne sich dafür hinlegen
und sterben zu müssen.
Er wandte den Blick von der
Straße kurz zu der Frau neben sich.
Er sah ihre gepflegte Blässe, ihren Hut, ihre verblichene Würde –
und dann lächelte er. Ein warmes, leises, verstehendes Lächeln.
Und lächelnd fuhr er die letzten
Meter bis zu seinem Hof.