Samstag, 15. März 2014

Nora und Billy

Als ich Nora das erste Mal begegnete, muss ich etwa 20 Jahre alt gewesen sein. Nora mag damals wohl fast doppelt so alt wie ich gewesen sein, in meinen Augen war sie also eine alte Frau. 
Ich war mit ihrem Bruder Billy befreundet, der um einiges jünger war als sie. Die beiden hatten ihre Eltern früh verloren, und Nora fühlte sich für Billy verantwortlich, zumal Billy während seiner Kindheit eine schwere Erkrankung überwinden musste und in Noras Augen seine Hilfebedürftigkeit wohl nie ganz verloren hatte. 
Billy war klug, amüsant, herzlich und es fiel ihm nie schwer, Sympathien zu gewinnen, Nora hingegen war streng, abweisend, kühl und Furcht einflößend. Zumindest auf mich wirkte sie so. Ich glaube nicht, dass sie viele Freunde hatte. 
Wenn ich im Haus von Nora und Billy zu Gast war, vermied ich nach Möglichkeit jede Begegnung mit Nora. Billy war anders, als alle Menschen, die ich kannte, und er gefiel sich darin, "anders" zu sein. Noras Bestreben war es, "normal" zu sein. Billy war für Nora wie ein exotisches Wesen, das sie weder einordnen noch verstehen konnte. Sie wollte nichts weiter, als ein durchschnittliches und vernünftiges Leben zu führen, und in dieses Schema passte Billy nicht. Da nun jeder von ihnen seine eigenen Wertigkeiten und seine Wesensart geradezu kultivierte, schien ihre Beziehung zueinander so, als würde eine Henne ein Entenküken großziehen und dabei versuchen, es vom Schwimmen abzuhalten..

Vor kurzem trat Nora indirekt wieder in mein Leben. Das kam so, dass  nach mehr als 40 Jahren, in denen ich von den beiden nichts gesehen und gehört hatte, plötzlich Billy in meinen Gedanken auftauchte. Und er tauchte nicht nur auf, sondern klammerte sich so lange an meine Gehirnzellen, bis ich reagierte und begann, im Internet nach ihm zu suchen. Ihn zu finden war nicht schwer. Ich fand ihn dort, wo ich zwar nicht erwartet hatte, ihn zu finden, wo ich aber trotzdem meine Suche begonnen hatte. Die Freude auf beiden Seiten war groß, doch drei Wochen später starb Billy. Zurück blieb Nora, die mittlerweile eine verbitterte alte Frau geworden war, zerfressen von Groll und Hass gegen sich selbst, gegen ihren toten Bruder und gegen die Welt.

Ich habe über Nora und Billy oft nachgedacht in den letzten Tagen, Wochen... Die Rollenverteilung "Held und Widersacher", "Gut und Böse", "Schwarz und Weiß" schien immer so einfach, ja, drängte sich geradezu auf. Damals - vor mehr als vierzig Jahren - war das sonnenklar. Doch selbst mein inzwischen erwachsen gewordenes und doch etwas reiferes ICH  möchte - wenn es sich unbeobachtet glaubt - in dieser Konstellation gerne einen Täter und ein Opfer, einen Guten und einen Bösen sehen. Aber dies wäre wohl eine sehr vereinfachte Betrachtungsweise. 
Man mag nun die Vergangenheit in seine Überlegungen einbeziehen, Noras Kindheit während des Zweiten Weltkriegs, Billy, dessen Erkrankung ihm die nahezu ungeteilte Zuwendung und Aufmerksamkeit seiner Eltern sicherte und Nora in den Schatten drängte. Nora, ein Kind, das nichts weiter suchte, als Liebe und Beachtung, und das sich selbst langsam und unaufhaltsam hinter der Erkrankung und Pflegebedürftigkeit des Bruders verschwinden sah. Nora -ein Kind, dessen Erwartungen ans Leben nicht erfüllt wurden, und später eine Erwachsene, die glaubte, das Leben sei ihr etwas schuldig geblieben. Billy - der die Spuren seiner Krankheit sein Leben lang zu tragen hatte und das wahre Glücklichsein wohl auch auf die nächste Inkarnation verschoben hat.

Noras Schmerz war wohl irgendwann so übermächtig geworden, dass sie dachte, keine Wahl zu haben. Ihre einzige Option schienen ihre Wut und ihr Hass auf ihren Bruder zu sein. Schuldgefühle, Schuldzuweisungen und Frustration nahmen ihr scheinbar jede Wahlmöglichkeit. Sie hatte - ebenfalls nur scheinbar - keine Kontrolle über ihre Emotionen, konnte nicht mehr frei nach ihrem eigenen Willen agieren, sondern reagierte - im Rahmen dessen, was ihr möglich war - auf die Situation. Sie wusste nicht, dass sie trotz allem hätte glücklich sein können, wenn sie sich dazu entschieden hätte und wenn sie bezüglich ihrer Emotionen und ihrer Haltung eine andere Wahl getroffen hätte. 

Was ist nun meine Rolle in dieser Geschichte? Diese Frage stellt sich mir, jedoch habe ich noch keine schlüssige Antwort darauf gefunden. Vielleicht ist es nötig, meine manchmal allzu raschen Urteile zurückzunehmen oder meine eigene Haltung bezüglich mancher in mir vergrabener Konflikte zu überprüfen. Vielleicht ist es auch nur meine Aufgabe, Nora und Billy zu segnen, damit sie Frieden finden und einander in ihren Herzen zwischen Himmel und Erde ohne Groll begegnen können.

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